Was haben Platon und Billie Eilish gemeinsam? Abgesehen von einer großen Fanbase ist es die Beschäftigung mit dem Phänomen des Traums. In ihrem Debütalbum griff die junge Sängerin ein jahrtausendealtes Rätsel auf: Wo gehen wir eigentlich hin, wenn wir einschlafen? Auf diese Frage wissen weder Philosoph*innen noch Popstars eine definitive Antwort. Letztere können das Thema aber immerhin musikalisch verarbeiten. Eilishs Album wirkt wie eine surreale Reise durch die verschiedenen Dimensionen des Traums.

Ein kleines Schlafzimmer, irgendwo in Los Angeles, Mitte der 2010er-Jahre: Hier wird nicht nur geträumt, sondern auch Musik gemacht. Gemeinsam mit Finneas O’Connell – ihrem Bruder und Produzenten – nimmt Billie Eilish ihr erstes Album größtenteils zu Hause auf. Was auf wenigen Quadratmetern beginnt, endet in ausverkauften Konzerthallen: Das Album bringt der jungen Sängerin weltweite Anerkennung, fünf Grammys und Millionen von Fans.

Für Billie Eilish ist es ein wahrgewordener Traum – in mehr als nur einem Sinne. Wie die Titelfrage When we all fall asleep, where do we go? andeutet, dreht sich das 2019 erschienene Album um das Rätsel des Träumens. Billie Eilish sieht ihr Werk als eine musikalische Interpretation des Traumhaften. Obwohl es nicht in jedem der 14 Songs explizit um Träume geht, zieht sich eine typisch traumartige Surrealität durch das gesamte Album. 

Die (alp)traumhafte Welt der Billie Eilish

Eilish kennt sich mit außergewöhnlichen Traumerfahrungen aus. In Interviews behauptete sie wiederholt, sie träume stets luzid und könne ihren Traum wie ein Computerspiel steuern. Neben Klarträumen habe sie auch Wahrträume, in denen sie von Dingen träumt, die sich in der Zukunft ereignenAuch Alpträume plagen die Künstlerin, manchmal kehrt derselbe furchtbare Traum jede Nacht über Monate hinweg wieder. Zudem erlebte sie mehrmals eine Schlafparalyse.

Bei der Schlafparalyse oder Schlafstarre kehrt das Bewusstsein eines Schlafenden zurück, während er sich in der Muskellähmung befindet, die in der REM-Phase des Schlafs auftritt. Für die Paralysierten ist es meist ein zutiefst erschütterndes Erlebnis. Als wäre die Lähmung nicht schlimm genug, sind Schlafparalysen oft mit erschreckenden Halluzinationen verbunden. Viele Menschen sehen schwarze Schattengestalten oder spüren die Präsenz böswilliger Dämonen. Auch für Billie Eilish waren diese Erfahrungen sehr beängstigend und unangenehm – aber dennoch nützlich. 

Auch Schatten brauchen Liebe

Billie Eilish Albumcover

Billie Eilish schlüpft auf dem Cover ihres ersten Albums in die Rolle eines Nacht-Dämons. © Universal Music

Ohne Nachtschrecken wäre ihr Debütalbum gar nicht entstanden. Der erste Funken, der den kreativen Prozess zu diesem Projekt entfachte, war Bury a Friend – eine musikalische Darstellung der Schlafparalyse, in der Billie Eilish selbst in die Rolle des Dämons schlüpft. Diese Idee spiegelt sich auch auf dem Album-Cover wider: Mit teuflischem Grinsen sitzt die Künstlerin auf einem Bett, ihre ausgefüllten Augenhöhlen leuchten in der Dunkelheit. Billie Eilishs Identifikation mit dem Dämonischen knüpft an psychologische Erklärungen an, die Schreckenshalluzinationen auf unbewusste und verdrängte Aspekte der Psyche zurückführen.

Nach Carl Gustav Jung hat jeder Mensch einen „Schatten“ – eine destruktive und böswillige Seite, die  unter der Fassade der Ich-Persönlichkeit verborgen liegt. Der Schatten kann nicht bekämpft werden. Stattdessen sollte ein Individuum diesem Aspekt des Selbst bewusst begegnen und ihn produktiv in die Persönlichkeit eingliedern. Bury a Friend echot eine solche Konfrontation mit dem Bösen. „Why don’t you run from me, Why aren’t you scared of me“ und „Why do you care for me?“ fragt der Dämon in den ersten Zeilen des Songtexts. Er ist ganz verwundert über die Aufmerksamkeit und Zuneigung, die ihm nur selten zuteil wird. Trotzdem macht er es dem Träumer nicht leicht und bleibt ganz im Sinne des Jung’schen Schattens eine mysteriöse Gestalt: „Keep you in the dark – what had you expected?“

Ein Zahnbohrer als Instrument

Musikalisch wird die Horror-Atmosphäre durch minimalistische Instrumentalbegleitung, ein schauriges G-Moll und einen relativ schnellen Beat (120 Schläge pro Minute) untermalt. Letzteres könnte für den rasenden Herzschlag des Alpträumenden stehen. Doch das Sahnehäubchen auf dieser Alptraumtorte ist ein eher unkonventionelles ‚Instrument‘: In Bury a friend kommt der Klang eines Zahnbohrers zum Einsatz. Außergewöhnliche Töne tauchen im gesamten Album auf. Im Refrain von Bad Guy kommt zum Beispiel das Ticken einer australischen Fußgängerampel vor. Ganz zu Beginn des Albums hört man außerdem, wie Billie Eilish ihre Zahnspange herausnimmt (was wiederum zur Traumthematik passt – sie nimmt die Spange heraus, um sich bettfertig zu machen). Im Schlaf verarbeiten wir Alltagserlebnisse zu Träumen, in Billie Eilishs traumhaftem Album verwandelt sie Alltagsgeräusche in Musik.

Teufel, Drogen und Zuckerwatte

Die Tracklist des Albums ist sehr vielfältig, auch wenn die düstere Stimmung des tongebenden Bury a friend vorherrscht. Auch in anderen Songs beschäftigt sich Billie Eilish mit dem Bösen: Vom Dämon in Bury a friend entwickelt sie sich in All the good girls go to hell zu Satan höchstpersönlich weiter. Wie im Traum schlüpft Billie Eilish in verschiedene Rollen, verarbeitet Ängste und lebt geheime Wünsche aus: You should see me in a crown ist eine größenwahnsinnige Machtfantasie, Ilomilo ein stiller Sehnsuchtstraum und Xanny handelt von der Angst, gute Freunde an Drogen zu verlieren. Auch der typische Traum vom Fall kommt vor in einem sehr drastischen Kontext: In Listen before I go beabsichtigt das lyrische Ich vom Hochhaus zu springen. Doch das Album ist kein reiner Alptraum: Auch fröhliche und unbeschwerte Tracks sind dabei, etwa 8. Die kindliche Gesangsstimme und Ukulele-Begleitung lassen wie einen Zuckerwattentraum aus der Fantasie einer Achtjährigen klingen.

Wenn Träume Träume erfüllen

Billie Eilish betonte in Interviews immer wieder, wie persönlich ihr Debütalbum für sie ist. Nach einer genaueren Betrachtung wird klar, warum: Das Album ist ein Querschnitt ihrer Psyche – so wie die Träume, die sie dazu inspiriert haben. Im Endeffekt haben diese Billie Eilish zu ihrem sensationellen Erfolg als Musikerin verholfen: Ihre Träume erfüllten ihren Traum. Für ihre Grammys kann sie dem Schlafparalyse-Dämon danken. 

 

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Kopf mit bunter Wolke Träume

3 Kommentare
  1. Viktoria Boll
    Viktoria Boll sagte:

    Sehr interessant auch als absoluter Fan noch etwas Neues über Billie Eilish zu erfahren. Bei ihrem Bühnenbild bekommt man auch den Eindruck, als würde sie versuchen ihre Träume zu visualisieren. Vielen Dank für die vielen Infos, die Billies Kunst noch großartiger und spannender machen.

  2. Tran Trieu
    Tran Trieu sagte:

    Ich hatte mir bury a friend immer gerne angehört und auch immer mal wieder über den Titel des Albums philosophiert. Mir war nicht bewusst, dass das Album so sehr durch das Träumen geprägt worden ist, ziemlich spannend! Auch die Einblicke in die einzelnen Songs finde ich super aufschlussreich, mich interessiert immer sehr was die Sänger*innen sich bei ihren Songs gedachte haben 🙂

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