Ob in einer Mappe unter dem Bett, in einer Kiste im Keller oder leicht angestaubt auf dem Dachboden – der Nostalgie verfallen haben unsere Eltern die ersten unbeholfenen Zeichnungen oder vor Fehlern strotzenden Diktate aufbewahrt. Diese Fragmente bilden ein Archiv unserer eigenen Bildungshistorie, in dem Papier allgegenwärtig ist. Mit der Digitalen Revolution hat sich die Bildungslandschaft jedoch erheblich verändert. Welche Rolle kann der Werkstoff Papier unter diesen Bedingungen noch in der Entwicklung von Kindern spielen? Haben Tipp-Programme die Schreibfibel längst abgelöst?
Laut des Netzwerks Papierwende Berlin verbraucht ein deutsches Kind bis zu seinem ersten Geburtstag im Durchschnitt schon so viel Papier, wie ein Mensch in Indien in 50 Lebensjahren. Der Vergleich zeigt deutlich, wie beliebt das Material zumindest in diesem Lernstadium noch ist. Die Popularität des Werkstoffs begründet sich auch in einem Dilemma, in dem sich die meisten Eltern früher oder später wiederfinden.
Kaum erblickt ein junger Erdenbürger die Welt, wird er mit einer Flut an Regeln und Konventionen überzogen. Den meisten Eltern ist es ein tiefes Bedürfnis, ihren Kindern ein gesellschaftskonformes, angepasstes Verhalten zu vermitteln. Schließlich endet die eigene Freiheit stets dort, wo die Freiheit des anderen beginnt. Dieser elterliche Wunsch ist nachvollziehbar. Er kollidiert jedoch mit dem tief verwurzelten, intrinsischen Bedürfnis des Kindes, sich selbst und seine Umwelt durch Experimentieren in seiner Gesamtheit zu erfahren. Schon Generationen vor uns – und hoffentlich auch vielen nach uns – präsentierte sich der günstige Werkstoff Papier dabei als Lösung.
Die ersten Lernversuche auf Papier
Ein einfaches weißes Blatt Papier im Din A4 Format kostet weniger als einen Cent, bietet zugleich aber unzählige Möglichkeiten. Bereits für Säuglinge ist das Material bestens geeignet. Das Verletzungsrisiko ist äußerst gering und schon die kleinsten feisten Hände können den Werkstoff manipulieren und formen. Zerreißen, Zerknüllen, Werfen – der Nachwuchs kann mit Papier unter dem gelassenen Blick seiner Eltern unkompliziert Ursache-Wirkungs-Prinzipien erlernen.
Das Material bietet die Möglichkeit, erste kreative Vorstellungen zu verwirklichen. Die Kinder erfahren, dass sie mit einem Stift oder Pinsel ihrem Willen entsprechend Farbe auftragen können. Sie lernen, grüne Papierschnipsel wahlweise zu einem Baum oder einem wilden Muster zusammenzufügen. Vermeintliches Scheitern ist hierbei genauso bedeutend wie Erfolg.
Papier in der frühkindlichen Bildung
Die ersten Papierversuche bleiben selten im Gedächtnis. Spätestens ab dem Kindergartenalter verfestigt sich das Arbeiten mit Papier aber als bewusste Erinnerung. Diese muss nicht positiv geprägt sein: Immer wieder berichten Erwachsene, dass sie das Basteln in ihrer Kindheit als Zwang oder leidige Pflicht empfunden haben. Es stellt sich die Frage, wie relevant das Material tatsächlich für die frühkindliche Bildung ist.
An einem sonnigen Mittwochmorgen begebe ich mich daher auf Spurensuche. Ich stehe vor einem unscheinbaren, gelben Altbau im Stuttgarter Osten. Seine wahre Funktion verraten nur das gedämpfte Kindergelächter und die Spitzen des Klettergerüstes, die über den hohen Zaun ragen. Beim Besuch der Kita 2 des Kinder- und Familienzentrums St. Josef wird schnell deutlich, dass sich die pädagogischen Konzepte seit meiner eigenen Kindheit verändert haben. Den Kindern stehen unterschiedliche Spielräume zur Verfügung. Ihre Beschäftigung können sie meist selbst wählen. Mitspracherecht wird großgeschrieben.
Der Malraum, in dem ich hospitiere, wird durch eine große Fensterfront beleuchtet. An der Decke, den Wänden und Fenstern finden sich die verschiedensten Kreationen. Die pädagogische Fachkraft Doris Capek bereitet den Raum mit ein paar letzten Handgriffen vor und trägt durch ihre freundliche Ausstrahlung zur einladenden Atmosphäre bei. Nach und nach finden die ersten Kinder ihren Weg in das Atelier. Sie kommen freiwillig und aus eigenem Antrieb.
Der Kreativität freien Lauf lassen
Ausmalbilder oder Bastelvorlagen sucht man in dem kunterbunten Raum vergeblich. „Es ist sehr wichtig, der kindlichen Kreativität freien Lauf zu lassen und sie nicht durch vorgegebene Linien und Grenzen einzuschränken“, erklärt Doris Capek. Ohne zu zögern gehen die Kinder daher zu dem großen Holzregal, das bis unter die Decke mit Materialien gefüllt ist. Auf Greifhöhe befinden sich die verschiedensten Papiersorten. Buntes Pergament- und Transparentpapier. Goldenes Glanzpapier und verschiedenfarbige Papierstreifen. Wellpappe und Kartonagen. Sorgfältig wählt die fünfjährige Enisa* ein paar Schnipsel aus und kreiert im Anschluss selbstbestimmt eine Collage.
„In diesem frühen Alter ist gerade das haptische Erfahren von Materialien wichtig. Die Kinder sollen verschiedene Papiersorten und Formate kennenlernen. Nur so lernen sie, welches Papier sich am besten für Papierflieger eignet oder dass sich stabile Pappe schwer schneiden lässt.“ Die Ordnung im Malraum ist Capek dabei ein besonderes Anliegen: „Ich glaube, dass die ästhetische Präsentation der Materialien sehr wichtig ist. Auch als Erwachsener stöbert man schließlich lieber in einer gut sortierten Boutique als auf dem Krabbeltisch.“ Capek ist als Ansprechpartnerin für die Kinder immer präsent. Sie lässt ihnen aber dennoch Raum, ihre eigenen Ideen zu verwirklichen.
Origami-Vögel und Bildergeschichten
Der Tisch in der Mitte des Raumes ist inzwischen gut gefüllt. Dennoch widmet sich jedes Kind seinem eigenen Projekt. Yannik* ist sechs Jahre alt und faltet aus dünnem Origami-Papier einen Vogel mit beweglichen Flügeln. Er ist dabei so schnell und geschickt, dass deutlich wird, wie die Tätigkeit sowohl seine Motorik als auch sein Gedächtnis schult. Immer wieder hält er inne, um interessierten Kindern die Technik zu erklären und ihnen bei Schwierigkeiten zu helfen. Er begibt sich dadurch in eine soziale Rolle, die bei einem angeleiteten Bastelprojekt wohl selten zustande kommt.
Die sechsjährige Selma* rennt sofort nach dem Betreten der Einrichtung in das Malzimmer. Sie ist eine von Capeks Stammgästen. Zielstrebig schnappt sie sich ein weißes Blatt und Buntstifte. Die Kreativität ist ihr ins Gesicht geschrieben und innerhalb kürzester Zeit malt sie ein narratives Bild auf die freie Fläche. Die Kunst hilft ihr dabei, eine Geschichte auf Papier zu bringen, die sie noch nicht in Buchstaben fassen kann.
Als Selma mir im Anschluss den Inhalt ihres Werkes erklärt, wird deutlich, wie stolz sie auf das selbst Geschaffene ist. Umso mehr freue ich mich, als sie mir das Bild zum Abschied schenkt. „Es ist sehr bedeutend, dass man die Kreationen der Kinder wertschätzt und sie nicht zu Perfektionismus drängt. Nur so können sie sich ihren ungezwungenen, freien Umgang mit Kreativität erhalten. Eine Kompetenz, die den meisten Erwachsenen leider verloren gegangen ist“, gibt Capek zu bedenken. An diesem Vormittag wird deutlich, wie facettenreich der Umgang mit Papier im Kindergartenalltag ist und welch unterschiedliche Fähigkeiten dabei erlernt werden können.
Der Ernst des Lebens – Schulbildung auf und mit Papier
Es ist allgemeiner Konsens, dass digitale Medien im Kindergarten wenig Raum bekommen sollten. Das analoge Arbeiten mit Papier steht hier noch deutlich im Vordergrund. Spätestens ab dem Eintritt in die Grundschule ändert sich das Bild aber häufig. Plötzlich soll man aufpassen, dass das Kind nicht abgehängt wird, wenn es noch nicht sicher mit einem Tablet umgehen kann. Digitalisierung ist schließlich die Zukunft, Informatik einer der sichersten Berufszweige. Erst vor wenigen Jahren sorgte der Pisa-Spitzenreiter Finnland mit der Entscheidung, die Schreibschrift abzuschaffen, für Aufsehen. Minna Harmann aus dem finnischen Bildungsministerium bemerkte dazu gegenüber der „Helsinki Times“: „Flüssig tippen zu können ist eine wichtige nationale Kompetenz.“
In Deutschland ist der Einsatz von digitalen Medien in der Schule noch sehr unterschiedlich ausgeprägt. Baden-Württemberg hat die Medienbildung mittlerweile jedoch explizit im Unterricht verankert: Sie ist als eine von sechs übergeordneten verbindlichen Leitperspektiven im Bildungsplan festgeschrieben. Gerade in der Grundschule sollte der Einsatz aber immer abgewägt werden. „In diesem Alter zählt ganz eindeutig noch das Lernen ‚unplugged‘ , ohne Computer, dafür mit Stift und Papier”, erklärt Antonia Franke. Sie ist Referentin für MINT-Bildung bei der Stiftung Haus der kleinen Forscher.
Die Stiftung hat sich zum Ziel gesetzt, allen Kindern im Kita- und Grundschulalter den Zugang zu naturwissenschaftlichen, mathematischen und technischen Themen zu ermöglichen. Hierzu werden Begleitmaterialien und Fortbildungen entwickelt, die neben den Vorgaben durch die Bildungs- und Lehrpläne aktuelle Erkenntnisse der Frühpädagogik, Entwicklungspsychologie und Lernforschung beinhalten. In diesem Rahmen entstand auch die Broschüre „Forschen und Entdecken mit Papier”. Sie gibt Lehrkräften der Grundschule Informationen und Praxisideen an die Hand, um den Werkstoff Papier in den Schulalltag zu integrieren. Bundesweit haben bisher 1117 Lehrkräfte an einer begleitenden Schulung teilgenommen.
Papier – Ein Material für alle Fächer
„Es entspricht unseren Kernprinzipien, dass unsere Angebote weitestgehend mit Alltagsmaterialen auskommen. Daher ist Papier ideal. Es kostet so gut wie nichts, ist überall verfügbar und jedes Kind kennt es. Zudem ist es leicht zu manipulieren, so dass tolle Sachen daraus entstehen können – und das in jeder Altersstufe”, erläutert Antonia Franke. Beim Durchblättern der 60 Seiten starken Broschüre werde ich immer wieder davon überrascht, wie vielfältig das Material im Lernalltag der Grundschüler eingesetzt werden kann.
Wie im vorschulischen Bereich kann Papier genutzt werden, um Basiskompetenzen wie Feinmotorik und Schrift oder künstlerisches Gestalten zu schulen. Es kann aber auch im Fach Mathematik dazu dienen, durch Falttechniken erste Geometrische Formen und Muster zu vermitteln. Im Bereich Naturwissenschaft und Technik gibt es ebenfalls ein großes Potenzial: So können die Kinder beim Bauen von Papierfliegern lernen, wie die Fliegerform die Stabilität und das Flugverhalten beeinflusst. Die Schüler erfahren durch Experimentieren, wie das Zusammenspiel aus Abwurfwinkel und Abwurfgeschwindigkeit die Flugbahn bestimmt.
„Selbst im Bereich Informatik können wichtige Grundkenntnisse ohne elektronische Geräte vermittelt werden. Einfach nur mit Papier und Stift, Körpereinsatz und verschiedenen Alltagsmaterialien”, gibt Franke zu bedenken. So hat Informatik zwar viel mit Computern zu tun, die grundlegenden Denkweisen und Strategien können aber ebenso ganz analog vermittelt werden: „Wichtig sind das Verständnis zentraler Zusammenhänge und Prinzipien informatischer Systeme und die Erfahrung durch das Selbermachen. Das ist in unseren Augen von großer Bedeutung.”
Papier ist (noch) nicht abgeschrieben
Für die Verwendung von Papier in der Bildung gibt es viele gute Gründe. Beim Streifzug durch mein eigenes Bildungsarchiv sticht noch ein weiteres Argument heraus: Ich durchlebe vergangene Zeiten beim Durchstöbern meiner Kindergartenmappe oder meines prall gefüllten Poesiealbums. Ich suche Rat in meinen alten Mathematik-Aufzeichnungen oder werde mir beim Lesen früherer Aufsätze meines Fortschritts bewusst. Diese Fragmente meiner Lernhistorie sind immer auch Erinnerungsstücke an meine Erfolge und Misserfolge. Sie sind ein Teil meiner eigenen Geschichte.
*Die Namen der Kinder wurden geändert.
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Ich werde auch immer leicht nostalgisch, wenn ich alte Zeichnungen und Gemälde aus meinen Kindertagen zuhause in verstaubten Kisten wiederfinde, auch wenn ich nicht immer weiß, was ich auf den Blättern Papier genau darstellen wollte. Auch wenn die Digitalisierung dazu führt, dass wir Bücher immer öfter über einen Reader lesen oder uns in der Freizeit viel intensiver mit dem Smartphone beschäftigen und uns beispielsweise dort Notizen machen statt auf Papier, ist mir bei meinen kleinen Nichten aufgefallen, wie gern sie immer noch Kunstwerke mit Stift und Pinsel zu Papier bringen und es neben Kinderserien schauen oder dem Draußen-Spielen eine ihrer Lieblingsfreizeitbeschäftigungen ist.