Letzten Sommer habe ich einen getrockneten Blumenstrauß in den Neckar geworfen, um Abschied von einer vergangenen Liebe zu nehmen. Doch was ist, wenn man seinen eigenen Optimismus begraben will? Das „Sterbeformular für gestorbene Alltagsdinge“, ein Abschiedsritual in Papierform, kann helfen, immaterielle und materielle Dinge loszulassen.

Um mit einer Beziehung abzuschließen, werden in zahlreichen Filmen Briefe und Fotos verbrannt. Etwas, was kein exklusives Phänomen unserer Zeit ist: Bereits 1787 vertonte Wolfgang Amadeus Mozart das Gedicht „Als Luise die Briefe ihres ungetreuen Liebhabers verbrannte“ von Gabriele von Baumberg, in dem eine betrogene Frau im Liebeskummerrausch die Briefe ihres Geliebten verbrennt. Die Brennbarkeit und Vergänglichkeit von Papier wird oft symbolisch verwendet, um Altes hinter sich zu lassen und in eine neue Ära zu starten: Nach dem Abitur verbrennen viele die Schulhefte der verhassten Fächer, um diese nicht mit in ihre Zukunft zu nehmen. Zum Jahreswechsel werden Raketen in den Himmel geschickt, bestückt mit beschrifteten Papierstreifen, auf denen Dinge stehen, die man nicht ins neue Jahr mitnehmen möchte. Ähnlich eine alte chinesische Tradition: Auf Papierlaternen (Kong-Ming-Laternen) werden Wünsche geschrieben, welche danach wie Heißluftballons in die Lüfte steigen. In Deutschland ist dieses Ritual jedoch aufgrund der Unkontrollierbarkeit und der Brandgefahr in den meisten Bundesländern verboten. Der Abschiedsbrief ist wohl die gängigste Variante, wenn es um Abschiednehmen und Loslassen geht. Er kann helfen, zu reflektieren und etwas loszulassen. Manchmal hilft es auch, etwas aufzumalen und zu visualisieren.

Es gibt so viel, von dem man Abschied nehmen kann

Menschen sind Beziehungstiere. Deshalb fällt das Abschiednehmen in manchen Fällen sehr schwer. Rituale können dabei helfen: Sie bündeln die widersprüchlichen Emotionen des Abschiednehmens, geben ihnen Raum, vermitteln Sicherheit, können Trauer in Bewegung setzen und helfen dabei, etwas ruhen zu lassen, um eine neue Phase beginnen zu können. Abschied muss nicht immer etwas mit Verstorbenen zu tun haben. Es gibt so viel mehr, von dem man sich trennen kann: auseinandergelebte Freundschaften, Ex-Partner*innen, das Lieblingsbuch, das aus dem Leim gegangen ist, nicht gelebte Lebensträume, alte Schulhefte und unbrauchbare Mitschriften aus einem Uniseminar. Jeder neue Lebensabschnitt ist ein kleiner Neuanfang, an dem man immer auch etwas hinter sich lässt. Manchmal ist das ganz einfach und eine Befreiung. Aber manchmal fällt es auch sehr schwer. Dann kann ein Ritual beim Loslassen helfen.

Loslassen kann auch sehr guttun

Jeder Mensch nimmt ganz individuell Abschied. Rituale sind nicht in Stein gemeißelt und können persönlich abgewandelt werden oder verändern sich mit der Zeit. Es kann sehr hilfreich sein, Loslassen als kreativen Prozess zu verstehen und den Abschied nicht unbedingt als etwas Negatives zu sehen: Loslassen dürfen oder müssen, kann sehr guttun und heilsam sein.

Im letzten Sommer habe ich einen getrockneten Blumenstrauß in den Neckar geworfen. Vier Jahre hatte er kopfüber in meinem WG-Zimmer gehangen. Was damals von außen wie ein lustiges Brautstraußwerfen aussah, war für mich das Loslassen einer längst vergangenen großen Liebe: der letzte Schritt, um endgültig in die Zukunft zu starten. Es war ein feierlicher, schöner und freudiger Moment: Endlich geht es weiter! Ich bin bereit. Die Zukunft kann kommen. Es ist Zeit für neue Blumen. Loslassen heißt nicht vergessen. Aber das Abschiedsritual läutet den Neuanfang ein.

Doch nicht immer hat man ein biologisch abbaubares Symbol, welches man einfach mal so in die Natur pfeffern kann. Deshalb habe ich mich auf die Suche begeben, was man mit Papier alles anstellen kann, wenn man sich von etwas verabschieden will. Dabei bin auf das „Sterbeformular für gestorbene Alltagsdinge“ gestoßen.

Das Sterbeformular für gestorbene Alltagsdinge

Wiebke Jahns hat im Rahmen ihrer Bachelorarbeit in Medienkunst/Mediengestaltung an der Bauhaus-Universität Weimar unter dem Namen Fräulein Schwarz einen Blog zum Thema Zeitgenössischer Pessimismus und Schwarzmalerei gestartet. Auch in ihrem Masterstudium des Kommunikationsdesigns an der Hochschule Mannheim beschäftigte sie sich weiter mit Tod und Sterben, weshalb sie daraufhin eine Ausbildung zur Trauerbegleiterin machte. Heute lebt Jahns als freiberufliche Online-Redakteurin für Text und Social Media mit Schwerpunkt Bestattungsbranche in Hamburg und setzt sich als frisch gebackene Mutter mit dem Beginn und dem Ende des Lebens auseinander. Mit Papier hat Jahns tagtäglich zu tun: „Mir ist aufgefallen, dass ich sehr analog unterwegs bin: Ich schreibe immer alles auf Papier: Ich benutze keinen digitalen Kalender, schreibe To-do-Listen und anderes auf Papier oder auch in Notizbücher. Ich benutze nur Papier. Ich bezahle auch lieber mit Papiergeld als mit Karte.“

Falten eines Mini-Papiersarges

Stempel auf Formular: „Geliebt, beweint und unvergessen“

 

 

 

 

 

 

 

Das „Sterbeformular für gestorbene Alltagsdinge“, ein Abschiedsritual in Papierform, entwickelte Jahns schon während ihrer Bachelorarbeit: Durch die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema Pessimismus waren auch Abschied und Loslassen Dinge, mit denen sie sich in ihrer Arbeit beschäftigt hat. Da ihre Schwester in der Verwaltung tätig ist und sie selbst gerne strukturiert arbeitet und Dinge abheftet, entstand die Idee zum Sterbeformular. Aus der Beendigung einer Freundschaft in dieser Zeit schöpfte sie Inspiration, denn der Grund für das Ende blieb ihr unklar. Um diese Freundschaft loszulassen, half ihr das Sterbeformular, das auch in ihrer Bachelorausstellung zu einer interaktiven Station wurde. Das Sterbeformular ist recht selbsterklärend:

Sterbeformular für gestorbene Alltagsdinge

Die Ecke unten rechts kann man abtrennen und in einem Mini-Sarg bestatten oder auch beispielsweise auf den Kaminsims stellen – jeder so, wie er oder sie es will. In der Bachelorausstellung konnten die Menschen das Formular in einem Sterbeordner in Sarg-Form abheften. Es gab auch drei Stempel, inspiriert durch häufige Grabsteininschriften, mit welchen man das Formular vor dem Abheften kennzeichnen konnte: „Geliebt, beweint und unvergessen“, „Ruhe in Frieden“ und „In tiefer Trauer“.

Das „Sterbeformular für gestorbene Alltagsdinge“ habe ich selbst getestet, für gut befunden und werde es deshalb auch weiterhin für kleine und große Abschiede in meinem Leben verwenden.

Wer diese Art des Loslassens ausprobieren und für sich entdecken will: Hier geht’s zum Sterbeformular für gestorbene Alltagsdinge und zur Anleitung für den Mini-Sarg.

Das Erdbegräbnis…

…eines Mini-Sarges.

 

 

 

 

 

 

 

 

Foto Blumenstraußwurf: Eva Antonia Hahn,
Fotos, Sterbeformular und Mini-Sarg-Anleitung: Wiebke Jahns

 

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6 Kommentare
  1. magdalena_gredel
    magdalena_gredel sagte:

    Ein wirklich sehr spannender Beitrag und ein schöner Text! Trotz der leichten Melancholie, die mit ihm schwingt, drückt er eine gewisse Stimmung aus und hinterlässt mich positiv gestimmt. Ich habe ihn bereits mehrfach gelesen und er regt mich, auch durch die Art wie er geschrieben ist, wirklich sehr zum Nachdenken an. Du zeigst in diesem Text eine völlig andere Perspektive und Sichtweise auf, wie man in bestimmten Situationen handeln kann und Abschiede, seien sie auch noch so klein, bewältigen kann.
    Nach dem Lesen des Textes habe ich das Gefühl, mich gedanklich auf die nächste Situation, die möglicherweise einen Abschied bedeuten könnte, einzustellen und ihr positiv, erwartungsvoll und vielleicht auch etwas kreativer entgegen treten zu können. Oder Abschieden auch mal mutiger, mit neuen Ritualen begegnen zu können. Denn wie du schon sagtest -Loslassen kann auch mal gut tun und befreien!

  2. Robert Galiard
    Robert Galiard sagte:

    „Doch nicht immer hat man ein biologisch abbaubares Symbol, welches man einfach mal so in die Natur pfeffern kann“ ..einfach genial! 😀 Oberflächlich betrachtet beschreibt der Artikel die Bewältigung von Alltagssorgen durch rituelle Handlungen, doch zwischen den Zeilen werden viel tiefgreifendere Aspekte des Abschiednehmens spürbar. Danke für die Tränen Eva! ;D

  3. Friederike Schmidt
    Friederike Schmidt sagte:

    Liebe Eva, ich hätte nie gedacht, dass sich das Thema Papier mit den Themen „Trauer“ und „Loslassen“ verknüpfen lässt. Danke für den schönen Artikel! Das Sterbeformular halte ich wirklich für eine gute Idee, um einen Abschied offiziell zu machen, sich sehr bewusst trennen zu können und gleichzeitig noch ein wenig Humor in diesen Prozess einzubringen. 🙂

  4. Anonymous
    Anonymous sagte:

    Ich habe eben einen anderen Beitrag, von Berit Stier, gelesen über das Tagebuch-Schreiben. Und durch so etwas kann z. B. auch von Gedanken oder den Themen, die einen beschäftigen, „Abschied genommen“ werden. Zusätzlich mit einem solchen Sterbeformular und dem Mini-Sarg, wovon du schreibst, ist das eine wirklich kreative, coole Idee und rundet den Abschied nochmal etwas ab. Was auch in manchen Städten zu sehen ist: Bäume voller Schuhe. Die Schnürsenkel werden zusammengebunden und dann hoch auf einen Baum geschmissen, welche symbolisch für die eigenen Sorgen stehen sollen. Hier merkt man auch, dass der Mensch etwas Symbolisches zum Verabschieden braucht.

  5. Rebecca Sahin
    Rebecca Sahin sagte:

    Ich habe eben einen anderen Beitrag, von Berit Stier, gelesen über das Tagebuch-Schreiben. Und durch so etwas kann z. B. auch von Gedanken oder den Themen, die einen beschäftigen, „Abschied genommen“ werden. Zusätzlich mit einem solchen Sterbeformular und dem Mini-Sarg, wovon du schreibst, ist das eine wirklich coole, kreative Idee und rundet den Abschied nochmal etwas ab. Was auch in manchen Städten zu sehen ist: Bäume voller Schuhe. Die Schnürsenkel werden zusammengebunden und hoch auf einen Baum geschmissen, welche symbolisch für die eigenen Sorgen stehen sollen. Hier merkt man auch, dass der Mensch etwas Symbolisches zum Verabschieden braucht.

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