Das Totenfotografie war früher einst weit verbreitet und diente der Trauerbewältigung. Nachdem diese Tradition über Jahrzehnte verloren gegangen war, wurde der Brauch mit der Sternenkindfotografie wiederentdeckt.
Katrin Schäfer wird an einem Montagmorgen in die Frauenklinik der Universität Tübingen gerufen. Ihre Schritte hallen leise in den Gängen der Klink, als sie auf den Raum zugeht, in dem sie erwartet wird. Behutsam öffnet sie die Tür und tritt ein. Dort trifft sie auf eine junge Familie: Eltern, die mit drei ihrer Kinder um ein kleines Körbchen stehen. Katrin nimmt sich einen Moment, um die Szene auf sich wirken zu lassen. Sie weiß, dass sie gleich als Fremde in eine intime Blase eindringen wird. Eine Blase voller Schmerz und Hilflosigkeit. Doch ihre Aufgabe ist wichtig. Sie ist gekommen, um zu fotografieren, um kostbare Erinnerungen festzuhalten. Mit sanfter Stimme bricht sie das Schweigen: „Hallo ich bin Katrin, ich bin die Fotografin!”
Die Eltern heben den Blick und erwidern leise den Gruß. Katrin tritt näher, bemüht, ihre Präsenz so behutsam wie möglich zu gestalten. In dem Körbchen erblickt sie zum ersten Mal das Neugeborene, welches mit geschlossenen Augen daliegt. Aufrichtig begrüßt Katrin das neue Familienmitglied und heißt es herzlich willkommen. Jede ihrer Bewegungen ist einfühlsam und respektvoll. Auch dann, als sie zu ihrer spiegellosen Systemkamera in ihrer Tasche greift. Sie lässt sich viel Zeit, die zarten Details des leblosen Neugeborenen möglichst lautlos einzufangen. Um diese kostbaren Momente digital für die Ewigkeit festzuhalten.
Katrin Schäfer ist sehr darauf bedacht, sich als Fotografin unauffällig in die Situation einzufügen. Diese Sensibilität ist ihr sehr wichtig, besonders dann, wenn sie sogenannte Sternenkinder fotografiert. Diese eindrucksvolle Geschichte aus ihrem Alltag erzählte die 42-Jährige, die selbst Mutter von drei Söhnen ist, in einem Interview. Sternenkinder sind Kinder, die entweder tot zur Welt kommen oder bei denen der Tod unausweichlich bevorsteht. Katrin Schäfer ist eine von vielen Sternenkindfotograf*innen, die sich ehrenamtlich in Deutschland engagieren. Durch ihre Arbeit werden visuelle Erinnerungsstücke geschaffen, die betroffenen Eltern bei ihrer Trauerbewältigung helfen können.
Die Post-mortem-Fotografie
Das Fotografieren verstorbener Angehöriger mag heute auf viele befremdlich und makaber wirken. Doch im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts war dies eine gängige Praxis. Die Soziologen Thorsten Benkel und Matthias Meitzler stellen verschiedene Gründe zur Entstehung dieses Phänomens auf. Einerseits sei die Totenfotografie eine technologisierte Fortsetzung der Totenmaske, um die physische Realität des Verstorbenen festzuhalten. Zum anderen dienten diese Fotografien der Trauerbewältigung. So erklären die beiden Autoren in einem Artikel zur Dialektik der Totenfotografie: „Der Verlust eines Angehörigen wird gerade in seiner unmittelbaren Konfrontation mit dessen Leichnam begreifbar und sukzessive bewältigbar. Dieser Lesart zufolge gelingt das psychologische Loslassen gerade durch das fotografische Festhalten des toten Körperzustandes“.
Die hohe Kinder- und Säuglingssterblichkeit in der Zeit des 19. Jahrhudnerts führte dazu, dass besonders oft Fotos von verstorbenen Kindern angefertigt wurden. Diese Fotografien zeigen häufig Einzelporträts oder das verstorbene Kind im Kreise der Familie. Ein wiederkehrendes Motiv ist das des „vermeintlich schlafenden Engelchens im Schoße der Mutter“, wie Benkel und Meitzler erklären.
Der Wandel des Todes – vom Alltagsthema zum Tabu
Doch im Laufe des 20. Jahrhunderts verlor die Post-mortem-Fotografie immer mehr an Bedeutung. Nach Angaben der Kunsthistorikerin Katharina Sykora verschwand diese sogar fast vollständig in den 1960er Jahren. Das Verlorengehen dieser Tradition passt zu einer Entwicklung, welche der Philosoph Walter Benjamin 1936 in seinem Essay Der Erzähler beschreibt. Der Prozess des Sterbens wurde im Laufe des 20. Jahrhundert immer mehr aus dem Alltag der Menschen gedrängt. Gestorben wird nicht mehr zu Hause, sondern meist in Krankenhäusern oder Altersheimen. Diese Entfremdung vom Tod hat dazu geführt, dass das Thema immer mehr tabuisiert wurde. Eine Sache, über die man einfach nicht gerne spricht.
Ein bemerkenswertes Beispiel dieser Entwicklung war die Behandlung von Totgeburten bis in die 1980er Jahre. Müttern wurde oft jeglicher Kontakt zu ihren verstorbenen Kindern verwehrt und Totgeburten wurden häufig einfach im Klinikmüll entsorgt. So sollte das schreckliche Ereignis möglichst schnell verdrängt werden. Doch diese Vorgehensweise war nicht nur unmenschlich, sondern auch hoch problematisch. So erklärt Dr. Sven Seeger Chefarzt für Frauenheilkunde am Krankenhaus St. Elisabeth in Halle (Saale), in einem Bericht: „Wir wissen, dass wir die Entstehung einer Beziehung und Bindung zum verstorbenen Kind fördern müssen. Ohne Bindung ist keine Trauer und somit keine emotionale Bewältigung des Kindstodes möglich!“ Aufgrund dieser Missstände fand hier ein Umdenken statt. Dies wurde in erster Linie von Betroffenen, Hebammen und Psychologen und weniger von Medizinern in Gang gesetzt.
Das Wiederentdecken einer alten Tradition
Auch die ehrenamtliche Sternenkindfotografie spielt bei dieser Trauerbewältigung eine wichtige Rolle. Das Wiederentdecken dieser vergessenen Tradition kann helfen, den Tod sichtbar zu machen und zu enttabuisieren. Katrin Schäfer möchte zu dieser Entwicklung aktiv beitragen, indem sie offen mit dem Thema Tod umgeht und auch mit ihren Kindern darüber spricht. Zum Schluss unseres Gesprächs erzählt mir die Sternenkindfotografin, dass viele betroffene Familien ein Bild ihres verstorbenen Kindes gut sichtbar in ihren Wohnungen aufhängen. Auf diese Weise zeigen sie, dass dieses Kind immer ein Teil der Familie bleibt, auch wenn es nur für kurze Zeit lebte oder tot zur Welt kam.
Beitragsbild: Katrin Schäfer – Fotografin
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