Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan soll einmal gesagt haben: „Manche Bücher sind gefährlicher als Bomben.“ In der Menschheitsgeschichte gab es unzählige Würdenträger, die das geschriebene Wort als Bedrohung ausriefen. Nicht selten folgte die Zensur. Auf der documenta 14 machte die argentinische Konzeptkünstlerin Marta Minujín das Ausmaß dieser Meinungskontrolle auf eindrucksvolle Weise erlebbar.

Es war das größte Kunstwerk der 14. Ausgabe der documenta, einer der weltweit bedeutendsten Ausstellungen für zeitgenössische Kunst. Mit 65 Metern Länge, 30 Metern Breite und 20 Metern Höhe ragte im Spätsommer 2017 ein gewaltiger Tempel auf dem Kasseler Friedrichsplatz in die Höhe. Das Kunstprojekt „Parthenon of Books“ von Marta Minujín stellte einen maßstabsgetreuen Nachbau des Parthenons auf der Akropolis in Athen dar.

Der Parthenon auf der Athener Akropolis

© Harrieta171, Der Parthenon auf der Athener Akropolis

Statt des gewohnten Anblicks von weißem Marmor erwartete die Besucher der Ausstellung jedoch ein völlig anderes Material, das aus ferner Betrachtung an Mosaiksteine erinnerte. Je mehr man sich dem Kunstwerk näherte, desto deutlicher zeigte sich die tatsächliche Bausubstanz. Um die massive Stahlkonstruktion wanden sich unzählige Bücher jeglichen Inhalts und Formats. Insgesamt etwa 70.000 Druckwerke bildeten dieses Wahrzeichen der ersten Demokratie. Es wurden sowohl großformatige Schmuckausgaben der Bibel verbaut als auch einfache Taschenbücher wie der Thriller „Sakrileg“ von Dan Brown. Doch eins haben die Schriften gemeinsam: Jede dieser beschriebenen Papierseiten wurde einst von einer Machtinstanz verboten oder ist es bis heute.

Dem Bau des Parthenons ging ein gewaltiger Spendenaufruf voraus. Bereits auf der Frankfurter Buchmesse 2016 forderte man Privatpersonen und Verlage dazu auf, zensierte Bücher zu stiften. Wie Henriette Gallus, die Pressesprecherin der documenta, gegenüber dem Deutschlandfunk mitteilte, zeigten sich besonders viele Geber erstaunt darüber, welch hohen Anteil die verbotenen Bücher in ihren eigenen, heimischen Regalen ausmachten.

„Wenn man sich näher mit Zensur beschäftigt, überrascht einen gar nichts mehr.“

Das Foto zeigt den Arbeitsplatz des Rechercheteams. Man sieht viele Bücherstapel.

© Kasseler Liste, Etwa 70.000 Bücher aus aller Welt wurden für das Kunstwerk „Parthenon of Books“ gespendet

„Es steht ja eigentlich fast die komplette Weltliteratur drauf!“, erläutert die Literaturwissenschaftlerin Professor Dr. Nikola Roßbach von der Universität Kassel. Gemeinsam mit Gastprofessor Dr. Florian Gassner von der University of British Columbia leitete sie die wissenschaftliche Begleitung des Kunstprojekts. Zusammen mit einer studentischen Arbeitsgruppe erstellten sie eine wissenschaftlich gestützte Liste zensierter Bücher und validierten die eingesendeten Druckerzeugnisse.

„Wenn man sich näher mit Zensur beschäftigt, überrascht einen gar nichts mehr. Erwartet hätte ich sicherlich Heinrich Heine, Solschenizyn, die Bibel oder Karl Marx, aber nicht unbedingt Leonardo da Vinci in texanischen Gefängnissen oder Mozart in Österreich, mit seinem ‚Lob der Freundschaft’. Vor meiner Beschäftigung mit Zensur hätte ich auch nicht gewusst, dass Micky Maus, Harry Potter, Winnetou oder Grimms Märchen zensiert wurden.“

Die Kasseler Liste

In manchen Fällen machten es die Zensoren der Recherchegruppe vergleichsweise leicht: So stellten etwa die katholische Kirche mit dem „Index Librorum Prohibitorum“ sowie die Nationalsozialisten mit ihrer „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ bereits eigene, ausführliche Aufzeichnungen bereit. Zudem konnte die Arbeitsgruppe auf bereits gewonnene Forschungsergebnisse zurückgreifen. „In Österreich war im 19. Jahrhundert sowieso eigentlich alles verboten. Da hat ein Wiener Forschungsprojekt eine umfangreiche Datenbank zur Zensur 1750 – 1848 erarbeitet, die wirklich überwältigend ist“, erklärt Roßbach. Hinzu kamen einzelne Recherchen gegenwärtiger Literatur, beispielsweise in afrikanischen oder asiatischen Ländern.

Die Datenbank, die seit Kurzem unter dem Namen „Die Kasseler Liste“ auch online zur Verfügung steht, umfasst mittlerweile etwa 125.000 Titel – laut Roßbach handelt es sich hierbei aber nur um die Spitze des Eisberges: „Wer weiß, was alles nie das Licht des Buchmarktes erblickt hat oder erblicken wird: Ob es sich um politische oder religiöse Schriften handelt oder etwa um Romane mit homosexuellen Protagonisten – ein Tabuthema in vielen afrikanischen Ländern, auf das hohe Strafen stehen.“ Auch wird laut Roßbach die Auskunft über Zensur häufig verweigert, was es besonders schwer macht, sie aufzuspüren. So hatte das documenta-Büro im Jahr 2017 bei Zensurrecherchen im Vorfeld des „Parthenon of Books“ bei chinesischen Verlagen nach verbotenen Büchern gefragt und die Auskunft erhalten: ‚Bei uns gibt es keine Zensur!‘.

Gedanken auf Papier – gefährlich und fragil zugleich?

Marta Minujíns „Parthenon of Books“ begann durch die Bücherspenden als sozial-interaktives Kunstwerk und sollte auch als solches beendet werden. Das letzte Buch, „Primavera Romana“ des US-Autoren Tennessee Williams,  hängte die Künstlerin selbst an den Tempelnachbau. Das vollendete Konstrukt währte allerdings nur wenige Stunden bevor der Zerfall des Parthenons eingeläutet wurde: Hunderte Besucher standen Schlange, um sich ein Buch und somit ein Stück des Tempels mit nach Hause zu nehmen. Durch die Verteilung der Druckwerke verbreiteten sich die verbotenen Schriften ihrem auferlegten Schicksal zum Trotz weiter.

Das Foto zeigt die in Folie eingeschweißten Bücher des Kunstwerks „Parthenon of Books“ von Marta Minujín

© Kasseler Liste, Nahaufnahme des Kunstwerks „Parthenon of Books“ von Marta Minujín

Damit sich die Bücher auch nach 100 Tagen an der freien Luft noch in einem lesbaren Zustand befinden konnten, waren einige Vorsichtsmaßnahmen notwendig. So wurde jedes Buch einzeln und wasserdicht in eine transparente Folie eingeschweißt. Diese wurde akribisch ausgewählt und sollte verhindern, dass die Bücher durch die UV-Strahlung ausbleichen. Insgesamt recherchierte das technische Team der documenta ein halbes Jahr lang nach der besten Methodik.

Ein Vorgang, der eine besondere Ironie offenbart: Potenziell gefährlichen Gedanken und Ideen, die durch das kostengünstige Material Papier sowie die Erfindung des Buchdrucks schnell und relativ einfach weiterverbreitet werden können, werden oft eine enorme Sprengkraft unterstellt. Gleichzeitig ist jedoch kaum ein Material so fragil wie Papier. Zerreißen, Zerschneiden, Verbrennen, Auflösen – die Geschichte der Buchzensur geht einher mit derer der Buchvernichtung. Eines der unrühmlichsten Beispiele hierfür sind gewiss die Bücherverbrennungen der Nationalsozialisten im Mai 1933. In Kassel fanden diese auf eben jenem Platz statt, auf dem sich 2017 ein Tempel aus Zensurgut erhob. Hierbei handelte es sich allerdings weder um die erste noch um die letzte Vernichtungsaktion. Erst im Jahr 2001 gingen 6.000 Exemplare homoerotischer Poesie des Lyrikers Abu Nawas auf Geheiß des ägyptischen Kulturministeriums öffentlich in Flammen auf.

Der Mythos der gefährlichen Literatur

Die Schöpferin des „Parthenon of Books“, Marta Minujín¸ hat erklärt, dass es ohne Bücher keine Demokratie gibt. Dem stimmt Roßbach zu: „Ich würde auch sagen, dass die politische Selbstreflexion einer Gesellschaft auf die komplexe intellektuelle Denkarbeit, wie sie sich in einem Buch ausdrückt, nicht verzichten kann. Kein flüchtiger Tweet oder gepostetes Bild kann das ersetzen.“ Dennoch wird ihrer Meinung nach die Wirkung von Büchern auch oft überschätzt: „Die ‚Gefährlichkeit der Literatur‘ ist ein von der Zensurforschung schon lange entlarvter Mythos: Ein Buch verändert einen Menschen nicht – oder nur in den allerseltensten Fällen –, und erst recht keine Gesellschaft oder die Welt.“

Ihrer Meinung nach wird von Seiten der Mächtigen oft intuitiv ein viel zu simples Reiz-Reaktions-Schemata vorausgesetzt und gefürchtet: „Das individuelle Festhalten an identitätsstiftenden Weltbildern ist bei Menschen viel größer als Zensoren denken. Ein Nazi wird durch das Lesen von Marx nicht automatisch zum Kommunisten. Und erst recht als kollektives Phänomen findet Wandel nicht automatisch durch ein Buch statt – wenn die Zeichen nicht ohnehin auf Wandel stehen! Dann kann ein Buch tatsächlich einen Mosaikstein in einem Reformprozess darstellen. Aber dann kann die Zensur dieses Buches diesen Prozess auch nicht verhindern. Sie ist also in beiden Fällen unnötig.“

Gibt es ein Ende der Zensur?

In Zeiten von digitalen Kommunikationskanälen und Self-Publishing-Angeboten scheint die Veröffentlichung von Gedanken und Ideen einfacher als je zuvor. Nähert sich mit der digitalen Wende also auch das Ende der Zensur? „Wahrscheinlich wird es Zensur so lange geben, wie Menschen versuchen auf andere Macht auszuüben – auf deren Gedanken, Worte und Taten.“ Laut Roßbach verändert sich die Zensur jedoch durch die gegebenen technischen Möglichkeiten: „Im Digitalen gibt es neue, subtilere Formen der Kommunikationsbeschränkung und –manipulation, die uns auch in einem freien, demokratischen Land herausfordern.“

In Deutschland geht die Zensur heute nicht mehr von Seiten des Staates aus, erläutert die Forscherin. Vielmehr wird die digitale Meinungsfreiheit von privatwirtschaftlichen Internetprovidern wie Facebook, Twitter und Google bedroht: „Undurchschaubare Algorithmen, die löschen oder blockieren, und sogenannte ‚Cleaners’, die auf Grundlage eines nicht demokratisch ausgehandelten Privatrechts agieren, bestimmen die Kommunikation von Milliarden Menschen monopolartig.“

Wie groß hierbei die Gefahr für die Meinungs- und Pressefreiheit ist, zeigte sich deutlich vor den Europawahlen. Der Mikroblogging-Dienst Twitter wollte verstärkt gegen Wahlbeeinflussung vorgehen und ist dabei deutlich über das Ziel hinausgeschossen. Viele Accounts wurden aufgrund von harmlosen Kommentaren gesperrt und auch die Wochenzeitung „Jüdische Allgemeine“ fiel dem sogenannten Overblocking zum Opfer.

So stark sich die Zensurmechanismen also ändern, das Kernproblem bleibt erhalten. Schon Walther von der Vogelweide wusste vor 800 Jahren: „joch sint iedoch gedanke frî“ (Sind doch Gedanken frei) – so ist es die Meinungsäußerung leider bis heute nicht. Durch die haptische Präsenz der gedruckten Bücher gelang es Marta Minujín mit ihrem Kunstwerk, dem Ausmaß der Zensur eine physische Gestalt zu geben. Eine abstrakte Zahl wurde konkret erlebbar und damit zur Realität. Wie wohl ein digitaler „Parthenon of Tweets“ aussehen würde?

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5 Kommentare
  1. amelie.behringer
    amelie.behringer sagte:

    Der Beitrag ist super! Ich habe viele neue Dinge gelernt. Und sind wir mal ehrlich, wer dachte Micky Maus und Harry Potter sind von Zensur betroffen? Wirklich spannendes Thema.

  2. Lioba Wunsch
    Lioba Wunsch sagte:

    Spannender Beitrag, der zum Nachdenken anregt! Noch nie hab ich beim Lesen von Harry Potter oder Ähnlichem an eine mögliche Zensur gedacht. Danke für den Gedankenanstoß!

  3. Costanza Terino
    Costanza Terino sagte:

    Literatur birgt viel Veränderungspotenzial. Ich kann mir gut vorstellen, dass auch das alles als Zensur beschrieben werden könnte, was aufgrund unserer Normen und Werte von der Gesellschaft nicht zugelassen wird. Unsere Gesellschaft hat ebenfalls Mechanismen ausgebildet, die der Zensur ähneln. Um so wichtiger wird es, zumindest auf solche Strukturen aufmerksam zu machen. Danke für Deinen Artikel!

  4. ZikunZhao
    ZikunZhao sagte:

    Danke für deinen interessanten Text! Es ist ein sehr sinnvolles Thema, über den Wert und die Wichtigkeit von Zensursystem zu diskutieren. Nach meiner Meinung ist der Existenz der Zensur vernünftig, aber seine übermäßige Entwicklung ist für mich ein bisschen übertrieben. Wie die Balance zwischen Recht und Rede- und Pressefreiheit zu wahren ist, ist ein großes Problem.

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