Cancel Culture – ein Begriff, der für manche Gerechtigkeit und für andere Zensur bedeutet. Aber was steckt wirklich hinter diesem Phänomen und inwiefern kann das digitale Ansehen oder sogar die gesamte digitale Präsenz einer Person wirklich sterben? Denn wie wir alle wissen: Das Internet vergisst nie.
Hass, Hetze und Shitstorms sind nichts Neues im digitalen Raum. Aufgrund der prinzipiellen Anonymität einzelner Nutzer*innen sowie der Möglichkeit, sich schnell und effektiv mit anderen zu vernetzen, in Gruppen zusammenzufinden und zu organisieren, ist es leichter denn je, Menschen zu kritisieren, zu verurteilen und zu canceln, die im Rampenlicht der medialen Aufmerksamkeit stehen. Unabhängig davon, ob diese Kritik nun berechtigt ist oder nicht. Aber was genau bedeutet Cancel Culture? Wie manifestiert sich diese im digitalen Raum und welche Konsequenzen kann sie im echten Leben nach sich ziehen?
Was ist Cancel Culture?
Martina Thiele, Professorin für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen, bezeichnet Cancel Culture im Online-Wörterbuch Journalistikon als gezieltes „Nicht-zu-Wort-kommen-Lassen von Personen aufgrund ihrer Handlungen und/oder Meinungen“. Die entsprechenden Handlungen und Aussagen können Thiele zufolge als „sexistisch, homophob, rassistisch, antisemitisch, also letztlich diskriminierend“ eingeordnet und definiert werden.
Es handelt es sich also um ein Phänomen der sozialen Ächtung und des öffentlichen Boykotts von Personen oder Unternehmen, deren Haltungen oder Meinungen als moralisch verwerflich wahrgenommen werden. Eine moderne Form des Protests und der Bestrafung, welche medial ausgetragen wird, mit Social-Media-Plattformen als Hauptschauplatz der Handlung. Einzelpersonen und Gruppen haben hier zum einen die Möglichkeit, Missstände anzuprangern, zum anderen Forderungen nach Veränderungen zu verbalisieren. Doch Cancel Culture ist ein zweischneidiges Schwert – Fairness und Gerechtigkeit werden eventuell gefördert, während im gleichen Atemzug ganzen Existenzen bzw. Lebensgrundlagen der Todesstoß versetzt werden kann.
Wann ist Cancel Culture gerechtfertigt?
Cancel Culture bietet die Möglichkeit, Verantwortlichkeit einzufordern und von unangemessenen Äußerungen sowie Handlungen betroffenen Gruppen eine Stimme zu geben. Sie kann gerechtfertigt sein, wenn es darum geht, systematische Ungerechtigkeiten aufzudecken und zu bekämpfen. Bei Fällen von sexueller Belästigung, rassistischer Diskriminierung oder anderen schwerwiegenden Fehlverhalten, die oft jahrelang totgeschwiegen wurden, ist Kritik nicht nur berechtigt, sondern notwendig, um einen positiven gesellschaftlichen Wandel in Gang zu setzen.
Wann ist Canceln problematisch?
Probleme entstehen, wenn Cancel Culture zur unverhältnismäßigen Bestrafung geringfügiger Fehler oder missverstandener Äußerungen und Handlungen führt. Oft fehlt eine gründliche Recherche oder schlichtweg Kontext, wodurch Menschen teils vorschnell verurteilt werden. Andersherum wird Cancel Culture auch gerne von Rechtskonservativen ins Lächerliche gezogen bzw. umgedeutet, sodass gerechtfertigte Kritik abgeschwächt und als unberechtigte Zensur dargestellt wird.
Wie wird gecancelt?
Cancel Culture manifestiert sich auf vielfältige Art und Weise, abhängig von der jeweiligen Plattform und den beteiligten Akteuren. Grundsätzlich kristallisieren sich drei Formen des Cancelns heraus: digitale Kampagnen, Boykottaufrufe sowie institutionelle Sanktionen.
1. Digitale Kampagnen
Digitale Kampagnen stellen die häufigste Ausprägung der Cancel Culture dar und gehen oft Hand in Hand mit einem medialen Shitstorm. Zentrale Auslöser solcher Kampagnen ist die Veröffentlichung problematischer Handlungen oder kontroverser Äußerungen, die viral geht. Davon ausgehend werden meist Forderungen nach einer Entschuldigung, (rechtlichen) Konsequenzen oder dem Ende der Karriere der betreffenden Person laut. Diese werden nicht zuletzt gerne durch den Einsatz passender und teils provozierender Hashtags begleitet.
Im Jahr 2019 wurde etwa der Beauty-Influencer James Charles von seiner ehemaligen Mentorin und Beauty-YouTuberin Tati Westbrook beschuldigt, sie hintergangen zu haben, da er Werbung für eine konkurrierende Beauty-Marke betrieb. Weiterhin warf sie ihm unangemessenes Verhalten gegenüber Männern vor – Anschuldigungen, die nicht nachgewiesen und von James vehement abgestritten wurden. Diese Vorwürfe führten nicht nur zu einem massiven Shitstorm, unterstützt vom Hashtag #JamesCharlesIsOverParty, sondern auch zu einem rasanten Abfall seiner Follower-Zahlen. Doch James ist nicht von der Bildfläche verschwunden. Nach mehreren Entschuldigungs- und Erklärungs-Videos, sowie durch kontinuierliche Arbeit und neue Inhalte konnte er einen großen Teil seines Ansehens und seiner Followerschaft wiederaufleben lassen. Gerüchte und Zweifel stehen jedoch weiterhin im Raum und manifestieren sich in teils ambivalenten Kommentaren in seinen Instagram-Posts.
2. Wirtschaftlicher Boykott
Boykottaufrufe betreffen nicht nur Einzelpersonen. Auch Produkte oder Dienstleistungen von Unternehmen, die in Skandale verwickelt sind oder unethisches Verhalten an den Tag legen, können betroffen sein. Dies kann unter anderem erhebliche finanzielle bzw. wirtschaftliche Folgen mit sich bringen.
2022 löste zum Beispiel eine Balenciaga-Werbekampagne weltweites Empören aus. Darauf zu sehen: Kinder, die in BDSM-Outfits gekleidete Teddybären halten. #BoycottBalenciaga zirkulierte in den sozialen Medien und zahlreiche Prominente distanzierten sich von der Modemarke aufgrund der als unangemessen, geschmacklos und ausbeuterisch empfundenen Bilder. Dies führte zu einem Rückgang der Verkäufe sowie erheblichen Imageschäden. Balenciaga reagierte mit der Entfernung der Bilder und einer öffentlichen Entschuldigung, doch der wirtschaftliche Schaden blieb erheblich und die Marke musste intensiv daran arbeiten, ihr Image zu rehabilitieren.
3. Institutionelle Sanktionen
Cancel Culture bleibt selten im medialen Rahmen und geht häufig mit teils schwerwiegenden rechtlichen Sanktionen, wie zum Beispiel Kündigungen, Suspendierungen, Geld- und sogar Haftstrafen einher.
Hollywood-Produzent Harvey Weinstein wurde 2017 von mehreren Frauen des sexuellen Missbrauchs beschuldigt – die Geburtsstunde der #MeToo-Bewegung. Die Anschuldigungen resultierten in seinem Ausschluss aus der Academy of Motion Picture Arts and Sciences sowie dem Stopp vieler Projekte. 2020 wurde er zu 23 und 2023 zu weiteren sechzehn Jahren Haft verurteilt. Der Weinstein-Skandal kann hierbei als Paradebeispiel für den medialen Tod einer Person gesehen werden. Nicht bezüglich der medialen Aufmerksamkeit, aber hinsichtlich seines irreversibel zerstörten Ansehens – ein Tod ohne Aussicht auf Wiederauferstehung.
Canceln als metaphorischer Tod
In gewisser Weise symbolisiert Cancel Culture bzw. der Akt des Cancelns den Tod eines in der öffentlichen Kritik stehenden Individuums oder auch Unternehmens. Was dabei stirbt, ist das jeweilige Image oder vielmehr die Kontrolle über die eigene mediale Präsenz. Konstruktive Kritik, rechtliche Konsequenzen für problematisches Verhalten sowie abwertende oder diskriminierende Äußerungen sind ohne jeden Zweifel wichtig. Diese können jedoch auch übers Ziel hinausschießen.
Während einerseits Fehlverhalten korrigiert und Verantwortlichkeit eingefordert wird, birgt Canceln andererseits auch die Gefahr, Existenzen auf Grundlage vielleicht nur unbedachter Aussagen und Handlungen zu schädigen. Nicht selten entsteht dabei außerdem eine digitale Hasswelle, die schwer zu kontrollieren ist. Die Herausforderung besteht darin, einen gerechten Umgang mit Cancel Culture zu finden. Ein Umgang, der sowohl Fehlverhalten sanktioniert als auch die Prinzipien der Gerechtigkeit und Menschlichkeit bewahrt.
Wenn ihr mehr über Skandale berühmter Persönlichkeiten erfahren wollt, dann schaut bei diesem Blogbeitrag vorbei.
Beitragsbild: Pixabay, von geralt. Bearbeitet mit Canva.
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Krass, wie einflussreich Cancel Culture sein kann! Das Beispiel von James Charles ist ja auch nur eines von vielen. Sehr spannend geschriebener Artikel!