„Nobody knows where they might end up“ – mit diesem Vorspann beginnt seit nunmehr 20 Jahren jede Folge der beliebten US-Serie Grey’s Anatomy, die sich eingehend mit dem Thema Tod befasst und diesen auf vielfältige Weise darstellt.
Medical Dramas boomen. Seit den frühen 2000ern mischt auch der Zuschauermagnet Grey’s Anatomy mit, der aktuell in den USA mit der 20. Staffel auf ABC läuft. Im Fokus der preisgekrönten Serie von Produzentin und Drehbuchautorin Shonda Rhimes und Showrunner Krista Vernoff stehen neben medizinischen Dramen auch die Liebeswirren, Alltagsprobleme und Freundschaften der Ärzteschaft des fiktiven Grey Sloan Memorial Hospital in Seattle. Unweigerlich spielt auch der Tod eine große Rolle.
Zu Beginn der ersten Staffel startet die langjährige Protagonistin und junge angehende Ärztin Dr. Meredith Grey ihre Assistenzarztzeit in der chirurgischen Abteilung des (damaligen) Seattle Grace Hospital. Bald darauf wohnt sie einer turbulenten WG mit ihren Kolleg*innen Dr. Isobel „Izzie“ Stevens und Dr. George O‘Malley, hat ein Techtelmechtel mit dem Neurochirurgen Dr. Shepherd und kümmert sich um ihre demenzkranke Mutter.
Auch wenn Grey’s Anatomy mit gewissen Klischees spielt (arrogante Oberärzt*innen, Kompetenzgerangel, permanenter Wettkampf und Intrigen unter den Assistenzärzt*innen) und immer eine Prise Humor mit einstreut, wird den Zuschauer*innen schnell klar: Im Krankenhaus geht es nicht nur um Genesung, Heilung und Hoffnung – auch der Tod ist allgegenwärtig. In fast jeder Folge sind Ärzt*innen, Patient*innen und Zuschauer*innen mit ihm konfrontiert. Die Serie präsentiert eine große Bandbreite des Themas, u.a. Übermittlung von Todesnachrichten, gewaltsamer Tod, Sterbehilfe, Patient*innenschicksale, Versagen der Ärzt*innen).
Es werden immer wieder Szenen gezeigt, in denen die Ärzt*innen die Todesnachricht den Angehörigen überbringen. Dabei wird deutlich, dass die richtige Kommunikation, die Wortwahl und auch die Körperhaltung sehr wichtig sind. In einer Folge wird gezeigt, wie Meredith, inzwischen Oberärztin, ihren Assistenzärzt*innen eindringlich erklärt, wie man eine Todesnachricht respektvoll überbringt und was es alles zu beachten gibt. Sie weist darauf hin, dass die Angehörigen das Gesicht des Arztes für immer mit dem Tod ihres geliebten Menschen in Verbindung bringen werden, man äußerst behutsam vorgehen, aber auch klar und deutlich die Fakten nennen und keine Umschreibungen nutzen sollte.
Tatort Krankenhaus
Der Tod wartet vor allem im Staffelfinale auf. Oftmals wird dadurch der dramatische Höhepunkt der Staffel markiert oder es wird durch einen Cliffhanger die Spannung auf die nächste Staffel geschürt. Die letzten zwei Folgen der 6. Staffel (Der Tod und seine Freunde, Teil 1 & 2) zeigen den Amoklauf eines verzweifelten Witwers im Krankenhaus, nachdem seine Ehefrau nach einer geplanten OP unerwartet verstorben ist. Er tötet wahllos Ärzt*innen, Pflegekräfte und Sicherheitsleute, während er auf der Suche nach dem behandelnden Arzt seiner Frau ist. Sein Hass auf das Krankenhauspersonal scheint grenzenlos. Durch den von der Polizei angeordneten Lockdown sind auch Patientenleben bedroht – ein Mädchen läuft Gefahr, an einem Blinddarmdurchbruch zu sterben, da ihre behandelnden Ärztinnen nicht in den OP-Trakt gelangen. Auch ein angeschossener Arzt wird von zwei Kollegen in einem Konferenzraum notdürftig versorgt und am Leben gehalten. Der Tod tritt einerseits sehr schnell ein, etwa durch gezielte Schüsse, andererseits wird hier aber auch der langwierige Todeskampf von zwei verwundeten Ärzten gezeigt. Dabei rücken gleich mehrere wichtige Themen in den Fokus: Schusswaffengewalt in den USA, menschliches Versagen auf vielen Ebenen (ein Lockdown, der Menschenleben gefährdet, zögerliches Handeln der Polizei), die Grenzen der Medizin (die Patient*innen können nur notdürftig versorgt werden und müssen auf wichtige Medikamente, Operationen, etc. warten). Es zeigt auch, wie gefährlich es sein kann, einen Riesenapparat wie ein Krankenhaus lahmzulegen (trotz triftigem Grund) und fast schon handlungsunfähig zu machen.
„Leben ist besser als sterben, bis es nicht mehr so ist.“
Die Serie thematisiert ebenfalls das umstrittene Thema Sterbehilfe, bzw. den Wunsch von Patient*innen, zu sterben. In Staffel 6, Folge 18 (Sterben ist nicht leicht) sinniert Unfallchirurg Dr. Owen Hunt im Outro: „Leben ist besser als sterben, bis es nicht mehr so ist. Aber auch, wenn es das Richtige ist, einen Menschen sterben zu lassen – Chirurgen sind einfach nicht dafür gemacht. Wir sind arrogant und lieben den Wettkampf, wir verlieren nicht gern. Der Tod kommt einem wie eine Niederlage vor, auch wenn wir wissen, dass es keine ist und dass es nötig war und richtig, denn wir haben getan, was wir konnten […].“ In dieser Folge bricht das Kriegstrauma von Owen, ehemaligem Major der US-Luftwaffe, wieder auf, nachdem eine Patientin den Wunsch äußert, sterben zu wollen. Da er im Krieg täglich verwundete Soldaten behandelt hat, kann er diese Bitte nicht nachvollziehen. Das gefährdet wiederum die Zusammenarbeit mit Dr. Teddy Altman, seiner einstigen Weggefährtin im Irak-Krieg, die Verständnis für die Patientin hat.
Der Umgang mit dem Tod durch die Patient*innen ist ebenfalls sehr komplex und vielschichtig: manch ein Patient verschweigt die (ungünstige) Prognose seinen Angehörigen, andere geben Lebenstipps, während sie im Sterben liegen. Manch ein Patient will trotz geringer Chance kämpfen, andere fügen sich ihrem Schicksal.
Persönliche Schicksale
Die persönlichen Erfahrungen der Assistenzärzt*innen mit dem Tod werden ebenfalls thematisiert. Dr. Christina Yangs Vater starb bei einem Autounfall, als sie neun Jahre alt war. Durch dieses prägende Erlebnis beschloss sie, Ärztin zu werden. Als in Staffel 6, Folge 21 (Sensibilität) eine Frau mit Herzversagen eingeliefert wird, kümmert sie sich um die kleine Tochter der Patientin. Als Christina durch einen Kollegen erfährt, dass die Frau verstorben ist, bereitet sie das Mädchen behutsam auf die Todesnachricht vor: „Wenn deine Mutter stirbt, dann wirst du eine Menge fühlen. […] Und es wird weh tun, jedes Mal, wenn du an sie denkst. Und irgendwann wird es weniger weh tun. Und eines Tages wird es nur ein bisschen weh tun, wenn du an sie denkst.“ Am Ende der Folge bricht sie zusammen und berichtet ihrem Kollegen und Partner Dr. Hunt, wie sehr sie ihren Vater vermisse.
Ihre Kollegin Dr. Izzie Stevens verliert ihren herzkranken Verlobten Denny Duquette durch eine Komplikation nach einer Herz-Transplantation und entgeht nur um ein Haar selbst dem Tod, als sie gegen eine aggressive Krebserkrankung kämpft. Auch die Protagonistin Meredith Grey springt dem Tod gleich mehrfach von der Schippe. In Staffel 3 drohte sie, bei einem Rettungseinsatz im Hafen zu ertrinken und muss wiederbelebt werden, in Staffel 8 überlebt sie knapp einen Flugzeugabsturz. Später bricht sie hochschwanger mit Blutungen zusammen und in Staffel 17 kämpft sie nach einer schwerwiegenden Covid-Infektion um ihr Leben. Abgesehen davon versterben im Laufe der Serie ihre Mutter, Halbschwester Lexie, ihr Vater, Ehemann und einige Kolleg*innen. Es scheint, als sei der Tod ihr steter Begleiter.
Zugunglück – eine Triage-Situation
Die intensivste Storyline rund um das Thema Tod ist vermutlich Folge 6 der 2. Staffel (Zugunglück). Die Folge wurde sogar für einen Emmy (Kategorie: Primetime Emmy Award for Outstanding Writing for a Drama Series) nominiert. Nach einem Zugunglück werden zahlreiche Patient*innen eingeliefert, es herrscht Chaos in der Notaufnahme. Zwei Zugpassagiere, Bonnie und Tom, wurden bei dem Unglück vis à vis von einer Eisenstange aufgespießt und sollen nun operativ voneinander getrennt werden. Nach einem CT wird schnell klar, wie gravierend die inneren Verletzungen, vor allem bei Bonnie, sind. Nachdem die Ärzt*innen die Reflexe der Füße an beiden testen und Bonnie keine Reaktion zeigt, wird deutlich, dass ihre Überlebenschancen im Vergleich zu Tom eher gering sind. Dr. O’Malley sagt zu Dr. Shepherd nach einer kurzen Besprechung des Chirurgen-Teams: „Sie scherzt mit ihm – wie sagt man jemandem, der wach ist und Witze macht, dass er in ein paar Minuten tot ist?“ Im OP fragt Bonnie, die etwas ahnt, ob ihr Vater schon da sei, da sie sich verabschieden wolle. Als das verneint wird, lächelt sie müde und sagt: „Das ist ok. Daddy würde das nicht verstehen“. Als kurz darauf die OP startet und beide getrennt werden, beginnt der Kampf um Leben und Tod. Es wird schnell klar, dass Bonnie keine Chance hat. Die Ärzt*innen versuchen ihr Bestes, doch als Dr. Burke sich einen Überblick verschafft, sieht er, dass die Aorta völlig zerstört ist und sie verbluten wird. Als Tom zu kollabieren droht, wenden sich alle Ärzt*innen ihm zu. Sie wechseln die Handschuhe und lassen Bonnie zurück – eine klassische Triage-Situation. Nur Meredith bleibt neben der jungen Frau stehen und ruft, während sie versucht, sie wiederzubeleben: „Was ist mit ihr? Wir können sie nicht einfach aufgeben, wir haben eine Verpflichtung!“ und beginnt mit einer aussichtlosen Herzdruckmassage. Ihre Ausbilderin Dr. Bailey unterbricht daraufhin ihre Rettungsversuche und sagt: „Meredith, kommen Sie, die Schäden waren zu groß. Wir hatten nie eine echte Chance. Wir müssen sie gehen lassen. Zeitpunkt des Todes: 3:49 Uhr.“ Während alle mit Tom’s Rettung beschäftigt sind, bleibt Meredith, noch außer Puste von der Herzdruckmassage, neben Bonnie stehen. Sie betrachtet resigniert den Monitor, der eine Nulllinie anzeigt.
Die Szene gibt es bei Youtube:
Menschliches Versagen
Grey’s Anatomy zeigt außerdem auf, wie Ärzt*innen damit umgehen, wenn durch ihre Fehler ein Patient zu Schaden kommt bzw. im schlimmsten Fall verstirbt. Dr. Alex Karev begeht etwa während der Behandlung eines Nierenpatienten einen folgenschweren Fehler, indem er versehentlich eine falsche Medikamentendosis anordnet. Das hat zur Folge, dass der Patient eine schwere Hyperkaliämie (zu hoher Kaliumspiegel im Blut) erleidet und später an lebenserhaltende Geräte angeschlossen werden muss. Dr. Karev sucht verzweifelt nach einer Lösung und durchforstet tagelang Studien, bis sein Ausbilder Dr. Shepherd ihm erklärt, dass diese Erfahrung unausweichlich sei und früher oder später jeder Arzt durch einen eigenen Fehler einen Patienten verliert. Dennoch sitzt Dr. Karev noch Tage später am Bett des Patienten und macht sich schwere Vorwürfe.
Der ehemalige Chefarzt Dr. Webber berichtet einem Kollegen ebenfalls von einem dramatischen Erlebnis, bei dem er seinen ersten Patienten verlor. In seiner Assistenzarztzeit war er allein mit einem Patienten auf dem Weg zum CT, als dieser plötzlich kollabierte und verstarb, noch bevor er Herzalarm auslösen konnte und das Reanimationsteam ihn erreichte. „Wenn ich da aufgehört hätte, nach diesem Erlebnis, wäre mir nichts geblieben. Nur dieser Tod.“ Sein Fazit: Man darf vor dem Tod nicht resignieren, man muss weitermachen, dazu lernen, besser werden und bestimmte Fehler nicht wiederholen. Er stellt jedoch auch fest, dass sich dieser Vorfall in sein Gedächtnis gebrannt hat und er noch Jahrzehnte später immer wieder an den Patienten denken muss.
Der richtige Ton
Da der Tod in fast jeder Folge eine Rolle spielt, normalisiert sich dieser fast schon. Dennoch gelingt es dem Drehbuchautorenteam und Schauspieler*innen, mit diesem Thema würdevoll und ernsthaft umzugehen. Es wird deutlich, dass der Tod nicht nur Leben beendet, sondern auch die Leben der Hinterbliebenen für immer verändert. Die Serien zeigt schonungslos die Folgen für die Angehörigen. So wird Thatcher Grey, Merediths Vater, schwer alkoholabhängig, als seine Ehefrau Eileen im Krankenhaus an einer postoperativen Komplikation verstirbt.
In dieser Serie wird nichts beschönigt. Die Ärzt*innen sind keine Helden in weißen Kitteln, die alles Leid abwenden und Wunder vollbringen können. Sie kämpfen täglich gegen Krankheit und Tod – oft gewinnen sie, aber sie verlieren auch. Der Tod gehört zum Tagesgeschäft.
Quelle Titelbild: Getty Images
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