Am 6. Februar 2023 erschütterte ein gewaltiges Erdbeben die Türkei und Syrien. Mit einer Stärke von 7,8 auf der Richterskala traf das Beben Gebiete im Südosten der Türkei besonders hart. Tausende Gebäude wurden zerstört, unzählige Menschen verloren ihr Zuhause und die Zahl der Opfer stieg über drei Wochen immer weiter an. Die Geschichte von Mümtaz Gövce und seiner Familie ist eine von vielen, die dieses tragische Ereignis hinterlassen hat, aber sie sticht durch den digitalen Abschied seiner Tochter Elif Eylül besonders hervor.

Es hätte ein Tag sein können wie jeder andere. War es aber nicht. Um 4:17 Uhr fängt der Boden an zu beben, ein Beben, dessen Folgen verheerend für die Bevölkerung sein wird. Unter den Trümmern eines neunstöckigen Wohngebäudes mit 42 Wohnungen verliert Mümtaz Gövce seine Frau Sena und seine beiden Töchter Ece Birce (6) und Elif Eylül (9).

Ein einzelner Schuh im Erdbebengebiet – ein stilles Zeugnis der Zerstörung. (Foto von Mübeyra Erkuş)

Mümtaz Gövce war gerade beruflich in Istanbul, weit weg vom Geschehen. Währenddessen bebte der Boden unter Elifs Füßen und die Wände brachen über ihrem zierlichen Körper ein. Sie wurde von ihrer jüngeren Schwester und ihrer Mutter physisch getrennt und hörte von den beiden nie wieder etwas. Jedoch gelang es ihr, das Handy ihrer Mutter zu finden und sie versuchte verzweifelt, ihren Vater zu erreichen. Sie machte Sprachnotizen per WhatsApp, schrieb Nachrichten und rief mehrmals an. Leider ohne Erfolg, denn ohne Netzabdeckung wurden ihre Nachrichten und Anrufe zunächst nicht gesendet.

Zu diesem Zeitpunkt war ihr Vater bereits im Auto auf dem Weg zu ihnen. Er fuhr ununterbrochen und erreichte nachmittags das Wohngebäude. Angekommen war jedoch nichts. Vor Ort fand er nur Trümmer, unter denen er seine Familie vermuten musste.

Draußen herrschte Chaos. Die Verzweiflung und Hilflosigkeit der Überlebenden und Angehörigen vor Ort waren spürbar. In einem Interview beim Fernsehsender HalkTV schilderte Mümtaz die herzzerreißenden Momente, in denen er die Rufe der Eingeschlossenen aus den Trümmern hörte, ohne in der Lage zu sein, ihnen zu helfen. Die physische Barriere der Trümmer spiegelte die emotionale Barriere der Verzweiflung wider, die er und viele andere durchlebten.

„Baba, bitte hilf uns!“

Das Handy fanden sie später in Elifs Armen, nachdem die Familie aus den Trümmern gegraben wurde. Nach dem Mümtaz das Handy eingeschaltet hatte, trafen die Nachrichten ein.

„Baba, Antakya’da deprem oldu. Lütfen yardım et, ambulans çağır, konum at ben atamıyorum, bizi kurtarsınlar.“ –
„Papa, es gab ein Erdbeben in Antakya. Bitte hilf uns, ruf einen Krankenwagen, sende den Standort, ich kann ihn nicht senden, rette uns.“

Eine weitere Nachricht war noch herzzerreißender:

„Baba sana ulaşamıyorum. Lütfen beni ara, bana yardım et. Baba, annemlere ulaşamıyorum, galiba ben de öleceğim.“ –
„Papa, ich kann dich nicht erreichen. Bitte ruf mich an, hilf mir. Papa, ich kann Mama und die anderen nicht erreichen, ich glaube, ich werde auch sterben.“

In verschiedenen Interviews berichtet Mümtaz von der großen Angst vor der Dunkelheit, die seine Tochter Elif hatte. Diese Angst spiegelte sich in ihren Nachrichten wider, denn sie waren aller voller Sorge und Verwirrung. Außerdem fand man Fotos von ihren letzten Stunden auf dem Handy. Elif verbrachte  die einsame Zeit unter den Trümmern damit, Blitzfotos von ihrer Umgebung zu machen, um der Dunkelheit zu entkommen. Fotos, die zu schmerzhaften Erinnerungen für den Vater geworden sind.

Der digitale Abschied

In Zeiten der Digitalisierung hat der Begriff des Abschieds eine neue Dimension erhalten. Die letzten Nachrichten von Elif, die über WhatsApp an ihren Vater gesendet wurden, sind ein eindrückliches Beispiel dafür, wie moderne Technologie in Momenten der Not genutzt wird. Digitale Abschiede sind heute ein häufiges Phänomen, besonders in Katastrophensituationen, in denen physische Nähe oft nicht möglich ist. Die digitale Abschiedsbotschaft von Elif bleibt als wieder und wieder abrufbare Erinnerung. Ihre letzten Worte, voller Angst und Liebe, verdeutlichen die menschliche Seite der Katastrophe.

In seinen Interviews berichtet Mümtaz davon, dass die Nachrichten seiner Tochter für eine persönliche Veränderung gesorgt haben. Zu sehen, wie sehr seine Tochter litt und kämpfte, erweckte in ihm den großen Wunsch, seinen Schmerz in wertvolle Arbeit umzuwandeln. Er gründete die Nichtregierungsorganisation „6 Sıfır 2” („6 Null 2“), um sich aktiv für Kinderrechte einzusetzen. Zudem trug er zum Wiederaufbau der Infrastruktur bei, indem er durch seine Online-Präsenz Aufmerksamkeit und finanzielle Mittel generierte. Heute ist die Situation schon viel besser, jedoch noch weit von der Zeit vor dem Erdbeben entfernt. Die Millionenprovinz liegt zum Teil noch immer in Trümmern. Jedoch ist Mümtaz hoffnungsvoll und setzt sich mit aller Kraft für den Wiederaufbau ein.

Ein zerstörter Wohnkomplex – ein Symbol des Verlusts. (Foto von Mübeyra Erkuş)

Die Geschichte von Mümtaz Gövce und seiner Familie ist eine von vielen tragischen Erzählungen, die das Erdbeben in der Türkei am 6. Februar 2023 hinterlassen hat. Noch heute inspirieren seine Geschichte und seine wertvolle Arbeit die Welt. Dabei bleibt der digitale Abschied seiner Tochter Elif, ihr letzter Versuch, ihren Vater zu erreichen, als ein besonders schmerzhaftes und bewegendes Zeugnis in Erinnerung.

 

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