Ein Objekt der Schwelle: zwischen Trennung und Öffnung, Außen und Innen, Realität und Virtualität. Fenster können geschlossen sein, aber gleichzeitig private Einblicke gewähren. Der heimliche Blick durch fremde Fenster ist oft zentraler Handlungsträger in Filmen und Serien. Wie Fenster im Film als Motiv des Voyeurismus verwendet werden und selbstreflexiv auf das Kino verweisen, erfährst du in diesem Beitrag.
Streng genommen beschreibt der Begriff Voyeurismus eine krankhafte Neigung, bei der meist männliche Voyeure das Beobachten anderer Personen als sexuell erregend empfinden. Elementar für diese Neigung ist das Unwissen der beobachteten Person. Fenster nehmen dabei eine entscheidende Rolle ein. Sie bilden als Medium des heimlichen Beobachtens die Schnittstelle des Voyeurismus. Ihre Materialität erzeugt eine räumliche Trennung, die den unerwünschten Betrachter*innen gleichzeitig ein Gefühl von Sicherheit vermittelt. Die extreme Schaulust ist ein beliebtes Motiv in Horrorfilmen. Doch auch abseits dieses Filmgenres wird die eigentlich krankhafte Störung zur häufig vorkommenden Charaktereigenschaft von Protagonist*innen – dabei meist im Zusammenhang mit dem Blick durchs Fenster.
Fenster als intradiegetisches Kino
Ein Paradebeispiel hierfür ist eine Szene aus Staffel 1 der Netflix-Serie YOU – Du wirst mich lieben. Staffel 1 handelt von Joe, der eines Tages auf Becky trifft und sich in sie verliebt. Joes heimliche Liebe zu Becky wird schnell krankhaft. Er stalkt sie und beobachtet sie mehrfach unbemerkt durch ihre Fenster. Das im Laufe der Staffel deutlich werdende Machtgefälle zwischen beiden Charakteren spiegelt sich in dieser asymmetrischen Blickbeziehung wider. Während Joe Becky vor ihrer Wohnung auflauert, ist sie sich der Absichten und Handlungen Joes nicht bewusst. Betrachter*innen hingegen erhalten einen tiefen Einblick in seine Gedankenwelt. Die Fensterrahmen dienen nicht nur als Verbindung zwischen Privatsphäre und Außenwelt, sie zeigen gleichzeitig die Blickrichtung des Stalkers Joe auf. Was für uns der Bildschirm als Fenster zur Serie ist, ist für Joe das Fenster zu Becky. Die Serie verweist intradiegetisch, also in der filmischen Erzählung, auf die Erzählweise des Kinos.
In einer zugespitzten Szene stellt sich Joe im Abendlicht verdeckt hinter ein Gebüsch. Er blickt unbemerkt in Beckys Wohnung auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Im Laufe dieser Szene werden die Betrachter*innen nah ans Fenster geholt, während Joe weiterhin hinter dem Gebüsch verweilt. In diesem Moment übernehmen die Betrachter*innen Joes Perspektive und finden sich selbst ungewollt in der Rolle des Voyeurs wieder. Das Begehren des Stalkers wird zum Begehren der Betrachter*innen. Zeitweise überschreitet der Blick der Kamera sogar die Schwelle des Fensters und durchbricht damit die vierte Wand des intradiegetischen Kinos. An dieser Stelle wechselt die Erzählung von der Haupthandlung in Joes Fantasie, nach welcher er direkt vor Becky in ihrer Wohnung steht. Dieser Wechsel ist dabei nur durch die Überwindung des Fensterglases zu erkennen.
Die kinematographische Selbstreflexivität im filmischen Fenster
Im Kinosaal kann sich diese Verschiebung des Voyeurismus durch räumliche und materielle Gegebenheiten verstärken. Filmische Fenster werden dabei zu ambivalenten Medien, die nicht nur die ästhetische Grenze verschieben, sondern auch das Kino als Dispositiv mitdenken. Das Fenster im Film verweist auf das Kino selbst. Das geschieht durch eine Steigerung voyeuristischer Distanziertheit. So wie Joe heimlich im Dunkeln in die hell erleuchtete Wohnung seines späteren Opfers Becky blickt, so schafft die Dunkelheit im Kinosaal ebenfalls ein Gefühl des unbeobachteten Beobachtens für Betrachter*innen. Es entsteht eine Illusion des Einblicks in eine private Welt.
Neben den Lichtverhältnissen spielt auch die Kinoleinwand eine erhöhte symbolische Rolle bei der kinematographischen Selbstreflexivität. Während bei der Netflix-Serie YOU eine Instrumentalisierung der Fenster als Metapher für Kino beobachtet wird, wird in Alfred Hitchcocks Rear Window bereits 1954 das Fenster zur Selbstreflexion des Kinos. In diesem Kult-Thriller beobachtet der Protagonist Jeff aus Langeweile seine Nachbar*innen auf der anderen Seite des Innenhofes. Die Fenster seiner Nachbar*innen werden zu einem filmischen Mittel visueller Erzählung. Die visuelle Lust des Fotoreporters Jeff richtet sich auf die Handlungen, die sich vor seinem Kameraobjektiv abspielen. In der Eröffnungsszene beobachtet Jeff heimlich eine Nachbarin, welche in Unterwäsche durch ihre Wohnung tanzt. In dieser Szene fällt der Blick des Protagonisten, der Kamera sowie der Betrachter*innen zusammen.
Rear Window thematisiert aber nicht nur Jeffs Voyeurismus gegenüber seiner Nachbarschaft, sondern auch den der Zuschauer*innen im Kinosaal. Ähnlich wie bei der zuvor beobachteten Szene in YOU wird hier die Kameraführung durch den Blick des Protagonisten geleitet. Jeffs Blick wird stellvertretend zum Blick der Betrachter*innen. Doch gegensätzlich zu YOU, geschieht die Beobachtung in dieser Szene durch geöffnete Fenster. Dadurch entsteht ein selbstreflexives Spiel mit der Materialität der lichtdurchlässigen Leinwand. Betrachter*innen werden dazu angeregt, über die Eigenreflexion des Mediums nachzudenken.
Ein Blick durchs Fenster: gesunde Neugier oder krankhafter Voyeurismus?
Während es in Filmen und Serien oft ein gefährlicher Stalker ist, der andere Personen heimlich durchs Fenster erblickt, stellt sich im echten Leben die Frage, wo Neugier aufhört und Voyeurismus beginnt. Sind wir alle Voyeur*innen, nur weil wir mal aus Neugier in das Fenster unserer Nachbar*innen blicken? Doch kein Grund zur Sorge – man kann auch voyeuristische Neigungen haben, ohne gleich an einer voyeuristischen Störung zu leiden. Denn neben der filmischen Überrepräsentation der starren Begriffsdefinition, gibt es auch ein differenzierteres Verständnis: Voyeurismus steht ebenfalls für eine „normale“ Schaulust, das unbemerkte Beobachten, ohne dabei sexuelle Lust zu empfinden.
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