Ein Geräusch am Fenster, plötzlich taucht ein Gesicht auf und im nächsten Moment steht jemand in deinem Schlafzimmer. Was nach einer ziemlich gruseligen Situation klingt, erscheint uns völlig normal, wenn wir dabei an ein Liebespaar denken: Vom bayrischen Brauch des „Fensterlns“ bis zu Szenen aus diversen Filmen und Serien. Romantisch – oder etwa nicht?
Das Motiv des Durchs-Fenster-Steigens ist vermutlich so alt wie das Fenster selbst. Die Tür auf einer anderen Ebene bietet die Möglichkeit, der oder dem Geliebten einen Besuch abzustatten. Gründe gibt es viele: den teilweise akrobatischen Aufstieg als Liebesbeweis auf sich nehmen, ein Überraschungsmoment kreieren oder sich eine größere Chance erhoffen, nicht abgewiesen zu werden. Die schwindelerregende Höhe hindert dann vielleicht doch eher daran, jemandem das Fenster vor der Nase zuzuknallen. Meistens ist die Motivation, durch ein Fenster ins Haus zu steigen, aber simpel. Vorbei an Eltern oder gesellschaftlichen Regeln ist das Fenster oft die bessere Tür. Beim bayrischen sowie österreichischen Brauch des Fensterlns ging es auch genau darum: sich möglichst unbemerkt an anderen Bewohnerinnen oder Bewohnern vorbei ins Schlafzimmer der Frau schleichen.
Mit der Leiter zum Kammerfenster
Laut Bayrischem Rundfunk kommt das Fensterln in volkskundlichen Quellen bereits im 17. und 18. Jahrhundert vor. Bis 1969 galt der sogenannte Kuppelparagraph, nach dem es per Gesetz verboten und strafbar war, unverheiratete Paare Unzucht treiben zu lassen. Daher achteten die Bauernfamilien stark darauf, ihre Töchter oder Mägde von Verehrern fernzuhalten. Man musste also etwas kreativer werden, um eine Liebesnacht zu verbringen – und hier kommt das Fensterln ins Spiel. Da sich die Schlafzimmer meist im ersten Stock befanden, kamen die jungen Männer nachts mit einer Leiter und stiegen zum Fenster der Verehrten.
„Diandl – mach auf!“
Im tiefsten Bayern, an der Grenze zu Österreich, lebt Martina Röpfl. Sie betreibt und moderiert den Internetradiosender „Volksmusikradio Bayrischzell“. Jeden Monat produziert sie eine neue Sendung mit Themen zu Volkskultur, Brauchtum und Heimatgeschichte. Im Juni widmete sie sich dem Brauch des Kammerfensterlns. Viermal täglich war die Sendung „Dirndl – mach auf!“ zu hören, jetzt ist sie auf YouTube zu finden. Im Dialekt spricht Martina Röpfl über alles, was ihre ausführlichen antiquarischen Recherchen ergeben haben. Dabei baut sie immer wieder überlieferte Sprüche oder Texte aus Liedern ein, die vom Fensterln handeln.
Erst Gassl-Gehen, dann Fensterln
Martina Röpfl erzählt in der Sendung, dass der Gang zum Kammerfenster bis vor 100 Jahren noch ein üblicher Brauch im Alpenraum war. Vor dem eigentlichen Kammerfensterln kam allerdings das „Gassl-Gehen“, so Röpfl. Dabei sei eine Gruppe von Freunden durch die Gassen gezogen und jeder habe sein Glück versuchen können, wenn auch nur, um sich von dem Mädel einen Schnaps abzuholen. Dass man zunächst im Rudel unterwegs war, hätte auch seinen Sinn gehabt: Wenn man von dem Mädel eine Abfuhr erhalten hat, hätte das Ganze nicht so ernst gewirkt. Sobald einer allerdings ein Liebesverhältnis zu einem Mädel hatte, sind die anderen Burschen weggeblieben und das Gassl-Gehen wurde zum Kammerfensterln, erzählt Röpfl. Oft habe der Bursche der Verehrten Brennnesselsamen ins Haar gestreut, weil das „die Liebeskraft erhöhte“. Da man die Samen nur sehr schwer aus dem Haar bekommen habe, musste die Angebetete dadurch lange an ihn denken.
Nussschalen, Rivalen, kaltes Wasser – der schwere Weg zum Fenster
War ein Bursche vom Mädel unerwünscht, wusste sie ihn auch abzuwehren, so Röpfl. Ein Eimer mit kaltem Wasser hätte beispielsweise den gewünschten Effekt erzeugt. Aber nicht nur die Abfuhr der Mädel sei ein Hindernis gewesen.
Wenn der Bauer einen erwischt habe, sei es natürlich vorbei gewesen mit der Liebesnacht. Daher sei sehr leises Anpirschen nötig gewesen. Röpfl erzählt: Rivalen konnten oft viel gefährlicher sein als der Hund des Bauern und ließen sich viele Störmanöver einfallen: Musik, sodass der Bauer geweckt wird, Nussschalen unterhalb der Leiter, die dann laut krachten, wenn man darauf stieg, oder das Verstecken der Leiter. Im Allgemeinen habe die Burschenschaft vom Dorf für Ordnung bei den Kammerfenstern gesorgt. Wenn jemand versucht habe, in ein anderes Revier zu wechseln, habe ein Pfiff die nächtliche Schäferstunde zerrissen. Dem Burschen blieb nichts anderes als der Sprung in die Tiefe, wo schon mehrere stämmige Gestalten mit Prügel auf ihn warteten, so Röpfl.
Das Geheime und die verschiedenen Hindernisse, die es gab, habe das Fensterln für manche aber umso reizvoller gemacht. Wenn man es allerdings über alle Hindernisse hinweg geschafft habe, regelmäßig am Kammerfenster Audienz zu bekommen, sei für Außenstehende klar gewesen, dass kein anderer Bursche mehr den Weg kreuzen würde. Endgültig sei das Kammerfenster dann mit der Hochzeit geschlossen worden.
Fensterln heute
„Heute haben die jungen Leute ja andere Möglichkeiten, um zusammen zu kommen und Heimlichkeit ist nicht mehr erforderlich“, schreibt Martina Röpfel auf die Frage, ob heute noch gefensterlt wird. „Also ich habe nichts mehr von einer Fensterl-Aktion gehört […], höchstens in betrunkenem Zustand, aber dabei wirds mit einer Leiter schwierig und gefährlich.“ In nördlicheren Regionen wird das Fensterln sogar aufgrund eines Urteils des Amtsgerichts Frankfurt am Main als Hausfriedensbruch geahndet, da es hier nicht als kulturelles Erbe gilt.
2015 machte das Fensterln noch einmal Schlagzeilen, als ein Fensterl-Wettbewerb beim Sportfest an der Universität Passau geplant war, der jedoch abgesagt wurde. Claudia Krell, die Gleichstellungsbeauftrage der Universität, legte ihr Veto ein und kritisierte, dass Frauen von der Teilnahme ausgeschlossen wurden. Dies löste eine Welle der Empörung aus, an der sich sogar CSU-Politiker Horst Seehofer beteiligte.
Wie Fensterln in Filmen und Serien fortlebt
Ausgestorben ist das Thema jedoch keineswegs. Fensterln lebt in unterschiedlichen medialen Repräsentationen weiter. Romeo und Julia (1936, 1968, 2013), Superman (1978), Forrest Gump (1994), Twilight (2008), Amazing Spiderman (2012), West Side Story (2021) – in allen diesen Filmen wird durchs Fenster gestiegen. Das filmische Motiv gibt es schon seit den 1930er Jahren. Einige Szenen sind in diesem Video zusammengeschnitten:
Vorbeigeschlichen wird sich hier nicht mehr am Bauer, sondern an den Eltern oder anderen Bewohnerinnen und Bewohnern des Hauses. Meistens sind es Männer, die zum Schlafzimmer der Frauen klettern. Die traditionelle Geschlechterverteilung in den Filmszenen knüpft also auch ans Fensterln an. Abgesehen von einem kurzen Schreck oder Gefühl der Angst werden die Szenen meist als romantische Geste inszeniert. Wenn man genauer darüber nachdenkt, sieht man dabei aber häufig Männer, denen schlimme Taten vergeben werden: Stalking, Voyeurismus, Verletzung der Privatsphäre und Missachtung von Grenzen.
Problematik des Motivs
Eine Szene, die vermutlich viele kennen, stammt aus Stranger Things, einer der erfolgreichsten Netflix-Serien. In der ersten Folge der ersten Staffel klettert Steve über ein tieferes Vordach zum Fenster von Nancy. Filmisch gesehen bietet so ein Einstieg ins Haus Potenzial für Aufregung und visuelle Abwechslung. Die Person, die ohne Vorwarnung Besuch durchs Fenster erhält, soll durch die Ankunft des Kletternden überrascht werden. Das erzeugt Spannung, die so nicht vorhanden wäre, wenn der Liebhaber oder die Liebhaberin einfach durch die Tür kommt. Die Tür ist eine klare Schwelle zwischen Außen und Innen, nach der auch meist erst einmal ein Flur folgt. Steigt man durch das Schlafzimmerfenster, gibt es keinen Übergangsbereich, sodass direkt in den persönlichen Raum eingedrungen wird.
Der Überraschungsmoment existiert auch in der Szene aus Stranger Things: Nancy erschrickt durch Steves Klopfen, reagiert kurz danach allerdings mit einem genervten Blick.
Steve gibt ihr mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie ihn hereinlassen soll. Immer noch sichtlich verärgert über sein Erscheinen, öffnet sie das Fenster und fragt, was er hier mache. Sie habe ihm doch am Telefon gesagt, dass sie Hausarrest habe. Daraufhin erwidert er, dass er sich überlegt habe, einfach bei ihr zusammen zu lernen. Obwohl Nancy wieder mehrmals mit „Nein“ antwortet, steigt er an ihr vorbei ins Zimmer und beschwichtigt sie. Er könne sie doch nicht bei ihrem Test scheitern lassen, deshalb solle sie Nachsicht haben. Zum Schluss der Szene lobt er seine Kletterfähigkeiten: „Was hab ich dir gesagt. Ninja.“
In der Serie wird es so dargestellt, als wolle Nancy insgeheim doch, dass Steve bleibt. Die Genervtheit von Frauen in den Fenster-Szenen hält oft nur kurz an, und schnell werden sie von den Männern überredet. Allerdings birgt das auch eine Gefahr: Die filmischen Darstellungen vermitteln, dass die gesetzten Grenzen oder Gefühle von Frauen nicht real sind oder ernst genommen werden müssen – sondern im Gegenteil, eine Einladung für den Mann seien, es weiter zu versuchen. Meist wird dieses Verhalten des Mannes dann auch belohnt. So auch in der Szene in Stranger Things, in der Steve Nancy am Ende küsst.
Positive Beispiele
Die Geschlechterproblematik wird allerdings teilweise aufgebrochen. Es gibt auch einige filmische Beispiele, in denen Frauen zu Männern durch das Fenster ins Schlafzimmer steigen oder gleichgeschlechtliche Paare zu sehen sind. Ein positives Beispiel ist die Fenster-Szene That ’70s Show (Staffel 2, Episode 8). Eric weiß, dass seine Freundin Donna durchs Fenster kommen wird. Erics Vorfreude und seine gezeigten Vorbereitungen bauen Spannung auf und führen zu einem schönen Moment bei ihrer Ankunft. Es geht also auch mit gegenseitigem Wissen und Zustimmung.
Mit oder ohne Vorwarnung, mit einer Leiter oder ohne: Ob man es romantisch findet, wenn der oder die Geliebte durchs Fenster im Schlafzimmer auftaucht, bleibt aber am Ende jedem selbst überlassen.
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