Tagebuchführen wird oftmals eine therapeutische Wirkung zugesprochen. Lifestyle-Gurus wie Tim Ferriss bewerben mittlerweile sogenannte Journals, in denen man täglich über sein Leben reflektiert. Das Formulieren seiner Gedanken scheint also einen positiven Effekt auf die Psyche zu haben. Aber woran liegt das? Im Gespräch mit Dr. med. Ute Inselmann, Fachärztin für psychotherapeutische Medizin, soll darauf eine Antwort gegeben werden.
Frau Dr. Inselmann, woran liegt es denn überhaupt, dass das Aufschreiben seiner Gedanken auf Papier so dabei hilft, einen klareren Kopf zu bekommen?
Meiner Meinung nach geht es dabei viel darum, seine eigenen Gedanken zu akzeptieren. Sich damit zu signalisieren: „Ich darf diese Gedanken denken.“ Vor allem bei Menschen, die viel grübeln, aber eigentlich loskommen wollen von dem Gedanken, über den sie ständig nachdenken. Das ist wie diese „Der weiße Elefant“-Geschichte: Wenn man sich ständig sagt: „Ich darf nicht mehr an den weißen Elefanten denken“, dann denkt man erst recht an ihn. Wenn man sich aber zugesteht, dass es in Ordnung ist, an den weißen Elefanten zu denken, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass man nicht mehr an ihn denkt. Durch das bewusste Formulieren des Gedankens wird also in erster Linie der wichtige Punkt der Akzeptanz erreicht. Das kann wiederum zu einem klareren Kopf führen.
Warum ist es dabei wichtig, nicht am Computer zu tippen, sondern per Stift seine Gedanken auf einem Stück Papier zu formulieren?
Indem man per mechanischer Schreibbewegung seinen Gedanken formuliert, scheint im Gehirn ein anderer Verankerungsprozess stattzufinden. Beim ständigen Grübeln, das ja meist auch unterbewusst stattfindet und oft sogar unerwünscht ist, bekommt das Gedächtnis nicht das Gefühl, dass es sich richtig mit dem Problem bzw. Gedanken beschäftigt hat. Das führt dazu, dass es immer wieder von vorne mit dem Grübeln anfängt. Die Gedanken kreisen also wortwörtlich um das eine Thema. Schreibt man den Gedanken dagegen auf, nimmt das Gehirn ihn auch bewusster wahr.
Und noch ein wichtiger Punkt: Wenn man selbst schreibt, bekommt man wieder ein „Ich-Aktivitäts-Gefühl“. Beim Grübeln denkt man oft an Inhalte, denen man sich praktisch ausgeliefert fühlt: Man will etwas nicht wahrhaben, kann etwas nicht zulassen, etc. In dem Moment, in dem man aktiv selbst schreibt, ist man wieder mehr Herr seines Tuns. Es findet also eine Wendung vom Passiven zurück ins Aktive statt.
Empfehlen Sie diese Methode auch Ihren eigenen Patienten?
Ja, das tue ich. Im Grunde genommen sage ich den Leuten immer: „Nehmen Sie sich einen Stift und ein weißes Blatt Papier, stellen Sie den Wecker auf 20 Minuten und schreiben Sie in dieser Zeit einfach alles, was Ihnen durch den Kopf geht, runter.“ Immer verbunden mit der Frage: Wie fühlt sich der Gedanke an? Das darf auch gerne jeden Tag dasselbe sein. Und am besten alles um dieselbe Zeit. Diesbezüglich frage ich die Leute eben auch, wann sie denn die Zeit dafür haben und ob sie das dann auch wirklich machen. Es ist wichtig, so etwas konkret zu besprechen und eine genaue Zeit für das Schreiben zu vereinbaren. So stehen die Chancen besser, dass die Patienten das auch durchziehen.
Weshalb sollte nicht nur der Gedanke, sondern auch das dazugehörige Gefühl mit aufgeschrieben werden?
Meistens entsteht ein Grübeln, also ein Gedankenkreisen, folgendermaßen: Die Leute versuchen eine Sache, die sie emotional nicht verarbeiten können, gedanklich zu kontrollieren; manchmal sogar ungeschehen zu machen. Wenn man sich jetzt aber dem Gefühl, das man bei dem Gedanken empfindet, bewusst wird, dann kann man die Verarbeitung dieses Gefühls anregen. Einfaches Beispiel: Man wurde auf der Arbeit vom Chef ausgeschimpft. Dann reicht es nicht nur zu schreiben, dass man auf unangenehme Art und Weise gemaßregelt wurde, sondern auch wie man sich dabei gefühlt hat. Wütend, beschämt, gekränkt und so weiter. Sich eines Gefühls bewusst werden ist schon Teil der Gefühlsverarbeitung.
Wie hoch ist die Erfolgsquote dieser Methode?
Die Methode hilft sehr stark. Auch Patienten, die vorher nicht daran geglaubt haben, sind hinterher immer ganz erstaunt wie gut es hilft.
Ist die Methode in der Praxis denn generell beliebt?
Ich kann mir vorstellen, dass Verhaltenstherapeuten die Methode öfter empfehlen. Genaue Zahlen kenne ich aber nicht.
Würden Sie es denn jedem Menschen empfehlen, so etwas einmal auszuprobieren?
Ich glaube man kann das nicht pauschalisieren. Es gibt ja auch Menschen, die überhaupt nicht zum Grübeln neigen und gerade davon profitieren, nicht so viel über Probleme oder Sorgen nachzudenken. Stattdessen sind für sie Sport, Schlafen oder auch die Freunde wichtig, um ausgeglichen zu bleiben. Es gibt bestimmt auch Menschen, die diese Methode sogar eher belasten würde, weil sie dadurch auf etwas aufmerksam werden, was sie davor überhaupt nicht als störend wahrgenommen hatten. Da muss man als Psychotherapeut immer ein bisschen einschätzen können, ob jemand eine Neigung zum Grübeln hat oder nicht. Daher kann ich die Methode nicht per se jedem empfehlen.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Dr. Inselmann.
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Die Idee, durch das Schreiben erneut in einen aktiven Zustand zu kommen, ist neu für mich und absolut schlüssig. Meine Erfahrung deckt sich mit dem Inhalt des Artikels: Das Schreiben hilft, aktiv zu verarbeiten. Ein sehr interessantes Gespräch. Vielen Dank.
Liebe Berit,
Danke, dass du so ein aktuelles und wichtiges Thema wie seelische Gesundheit im Blog aufgreifst. Ich fand besonders interessant eine wissenschaftliche Erklärung zu haben wieso das „Gedankenaufschreiben“ so hilft. Besonders das Analoge daran finde ich sehr schön und irgendwie befreiend. Wie du am Ende sagst ist Schreiben natürlich nicht für jeden und kostet manche Menschen Überwindung. Vielleicht wäre es deshalb auch interessant seine Gedanken aufzumalen und sich irgendwie visuell auszutoben.
Vielen Dank für deinen Blog. Aus psychologischer Sicht erklärt es, warum das Aufschreiben eigener Gedanken eine heilende Wirkung hat. Ich finde das sehr interessant. Weil ich auch gerne schreibe, besonders auf Papier. Wenn ich schlechte Laune habe, schreibe ich meine Gedanken und Gefühle auf und wenn ich mit dem Schreiben fertig bin, fühle ich mich immer viel besser.
Irgendwie vergesse ich es immer wieder, wurde aber wieder durch deinen Beitrag daran erinnert, dass ich wieder mit Tagebuch-Schreiben anfangen wollte! Ich kenn das befreiende Gefühl, etwas aus dem Kopf loszuwerden, indem man es dem Buch „schenkt“. Auch die Veränderung der Tagebucheinträge von Jahr zu Jahr nachzuvollziehen ist total spannend und die Tatsache, welches Thema einen wann beschäftigt hat und welche Hypothesen sich im Laufe der Zeit bestätigt haben und welche nicht. Außerdem sagt ein Tagebuch auch so viel mehr über einen aus als ein (inszeniertes) Foto und ist einfach toll, so etwas nach ein paar Jahren wieder durchlesen zu können.