Die wenigen Überlebenden der Shoah sind heute im Schnitt 86 Jahre alt. Eine Herausforderung für die Wissenschaft und Gesellschaft – denn wenn die Zeitzeug*innen sterben, wer erzählt dann ihre Geschichte? Ein Forschungsprojekt der Münchner Universität erstellt Hologramme von den Überlebenden und lässt sie damit quasi unsterblich werden. Wie das geht, erklärt Projektmitarbeiter Ernst Hüttl.
Das Projekt „Lernen mit digitalen Zeugnissen“, kurz „LediZ“, der Ludwig-Maximilians-Universität München hält durch Extended Reality die Erlebnisse und Erinnerungen der Überlebenden fest. Dafür wurden die Shoah–Überlebenden Eva Umlauf und Abba Naor zunächst interviewt. Beide waren Kinder, als sie befreit wurden – Abba Naor von einem Todesmarsch und Eva Umlauf aus dem KZ in Auschwitz. Rund 1.000 Fragen beantworteten sie bei Dreharbeiten in den Jahren 2018 und 2019 in England und wurden dabei von einer 3D-Kamera aufgezeichnet. Darüber hinaus wurde ein Sprachtool entwickelt, mit dessen Hilfe Fragen an die Zeitzeug*innen gestellt werden können. Nachdem eine Frage gestellt wurde, sucht das Programm nach einer passenden Antwort. Damit will das Projekt Schüler*innen die Möglichkeit geben, auch in Zukunft mit Shoah-Überlebenden zu sprechen und ein digitales Gedenken schaffen.
Projektmitarbeiter Ernst Hüttl führt seit 2020 Veranstaltungen an Schulen und Institutionen mit digitalen Zeugnissen durch und betreut einen technischen Teil des Projektes. In einem schriftlich geführten Interview beantwortet er Fragen zu ethischen Herausforderungen, Bildungsarbeit und was die politische und gesellschaftliche Lage für die Erinnerungskultur bedeutet.
Wie offen waren Eva Umlauf und Abba Naor ihrem Projekt gegenüber?
Herr Naor hat sich damals sofort bereit erklärt, am Projekt mitzuwirken. Frau Umlauf stand dem damals neuen Medium etwas skeptischer gegenüber, wurde aber von einem ihrer Söhne von der Teilnahme überzeugt. Man kann den digitalen Zeugnissen diese Frage („Was halten Sie von diesem Projekt?“) übrigens auch stellen.
Eva Umlauf zum Projekt: „Ich hab mir Gedanken gemacht. Ist das doch was anderes, als wenn der Mensch lebendig vor einem Fragen beantwortet? Aber ich denke inzwischen, wenn wir auch einen alten Film sehen, der nicht in 3D ist und nicht in Farbe ist, beeindruckt uns das auch, ja. Also ich weiß es nicht, wie das wirken wird, und ob etwas auch, wie man das hier nennt, ‚forever‘ auch wird, ob wirklich sowas ‚forever‘ wird. Aber man soll’s versuchen.“
Welche Zukunft sehen Sie für ihr Projekt in der Bildungsarbeit, vor allem auch in der Erwachsenenbildung?
Die Nachfrage von schulischer Seite ist bereits jetzt sehr hoch. Auch Gedenkstätten und Museen zeigen zunehmend Interesse, insbesondere mit Blick auf die absehbare Zukunft. Es ist davon auszugehen, dass es sogar noch mehr Anfragen geben wird, wenn die wenigen Zeugen, die in Bayern heute noch aktiv sind, verstorben sind.
Vor welchen ethischen Herausforderungen standen Sie im Rahmen des Projekts und ihren Zeitzeug*innen ?
Schwierige ethische Fragestellungen begleiten den gesamten Produktionsprozess und den Einsatz der Zeugnisse. Hier nur ein paar ausgewählte Beispiele: Wie viel kann hochaltrigen Menschen bei den Dreharbeiten zugemutet werden? Welche Fragen sollen im Studio gestellt werden, welche nicht? Wer entscheidet das? In welchem Ausmaß dürfen die Aufzeichnungen bearbeitet werden? Was darf beim Schnitt der einleitenden Erzählung gekürzt werden? Wie weit dürfen die hinterlegten Fragenvariationen in der Sprachverarbeitung von den Originalfragen abweichen? Wie stellen wir sicher, dass das Ansehen der Zeug*innen durch das Medium oder durch die Nutzer*innen nicht verletzt wird? In welcher Weise sollen Schüler*innen damit interagieren? Welche Maßnahmen ergreifen wir, um die Zeugnisse vor Missbrauch oder Manipulation zu schützen? Wer soll über das Medium verfügen, wenn die Personen, die es entwickelt haben, nicht mehr leben?
Können solche digitalisierungs- und KI-basierten Projekte die Erinnerung der Zeitzeug*innen ausreichend festhalten, sodass deren Geschichten nicht in Vergessenheit geraten? Oder wird die Kombination aus verschiedenen Vermittlungspraktiken notwendig?
Wie viel neue Medien – beispielsweise auch im VR-Bereich – wirklich leisten können, wird erst die Zukunft mit Gewissheit zeigen können. Mit Blick auf die aktuellen politischen Entwicklungen müssen wir außerdem auch kritisch reflektieren, was die bisherige Holocaust Education eigentlich leisten bzw. nicht leisten konnte. Eine Vielfalt von Vermittlungspraktiken halte ich aber in jedem Fall für wünschenswert.
Welche Probleme könnten im Zuge vom aktuell aufkommenden Antisemitismus und Populismus kommen? Wäre es möglich, dass etwa rechtsextreme Kreise falsche Zeugenschaften durch solche Technologien generieren können?
Texte, Bilder, Ton- und Videoaufnahmen wurden und werden immer schon aus dem Kontext gerissen, manipuliert und gefälscht. Ohne Frage ist das auch bei digitalen Zeugnissen möglich, auch wenn mir bisher keine entsprechenden Vorfälle bekannt sind. Das bereitet uns natürlich Sorgen, aber die Konsequenz daraus kann nicht sein, keine entsprechenden Dokumente mehr anzufertigen oder sie unzugänglich in Archiven zu verstecken. Wir können nur versuchen, entsprechende Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Eine solche Schutzmaßnahme ist beispielsweise, dass wir die unbearbeiteten Rohdaten der Filmaufnahmen in ihrer (deutlich höheren) Originalqualität am Leibniz Rechenzentrum hinterlegt haben, sodass wir entsprechende Manipulationen aufzeigen und widerlegen könnten.
„Digitale Zeugnisse sind der Versuch, ein Medium zu schaffen, das uns den Übergang in eine Zeit ohne Zeitzeug*innen erleichtern kann.“
Gibt es Grenzen, an welche die Hologramme stoßen?
Es gibt vieles, was die digitalen Abbilder der Zeug*innen offensichtlich nicht können – beispielsweise das Stellen von Rückfragen an ihre Nutzer*innen, das Verändern persönlicher Ansichten, das Kommentieren gegenwärtiger Entwicklungen, das Aktualisieren von Informationen oder das adressatengerechte Anpassen von Inhalten und Formulierungen. Natürlich wird zwischen Nutzer*in und Zeugnis auch nicht dieselbe soziale Beziehung aufgebaut, wie es mit einer*m lebenden Zeugen/Zeugin der Fall wäre. Es konnte letztlich zwar eine breite Palette an Themen abgedeckt werden, aber natürlich gibt es auch spezifische Fragen, die von uns aus Zeitgründen nicht mehr gestellt werden konnten oder auch nie im Fragenkatalog aufgeführt waren. Diese Leerstellen könnten auf ethische Weise nachträglich nur gefüllt werden, wenn wir Herrn Naor oder Frau Umlauf heute zu einem Nachdreh bitten würden.
Dagegen spricht allerdings, dass wir dann eine Vermengung von zwei Zeitpunkten schaffen würden, die mehrere Jahre auseinanderliegen, und damit bei Fragen mit Gegenwartsbezug unweigerlich Widersprüche generieren würden. Eine Tagesaktualität der Antworten lässt sich außerdem auch damit nicht langfristig gewährleisten. Digitale Zeugnisse repräsentieren also einen eingefrorenen Zeitpunkt mit einer entsprechenden Perspektive. Freilich wäre es mittlerweile technisch auch möglich, Antworten künstlich zu generieren. Das verbietet sich aber nicht nur aus einer Vielzahl offensichtlicher ethischer Gründe, es würde auch die Authentizität des Zeugnisses untergraben und liefe darüber hinaus gegen die eigentliche Funktion eines Zeitzeugengesprächs: Diese ist nicht in erster Linie, historische Daten und Fakten in Erfahrung zu bringen, sondern das individuelle, subjektive Erleben eines historischen Ereignisses und die unmittelbaren persönlichen Auswirkungen davon aus einer menschlichen Perspektive kennenzulernen.
Können Hologramme das physische Aufeinandertreffen mit Zeitzeug*innen ersetzen?
Nein, aber das war auch nie ihr Zweck. Digitale Zeugnisse sind der Versuch, ein Medium zu schaffen, das uns den Übergang in eine Zeit ohne Zeitzeug*innen erleichtern kann. Digitale Zeugnisse stehen übrigens auch in keiner Konkurrenz zu lebenden Zeugen: Schulen bevorzugen immer den lebenden Zeugen und fragen uns nur an, wenn dieser nicht kommen kann. Wir müssen aber der Realität ins Auge sehen, dass die letzten Zeitzeugen des Holocaust in absehbarer Zeit versterben werden. Dann sind die verschiedenen medialen Aufzeichnungen ihrer Geschichten alles, was uns davon bleiben wird.
„Auch digitale Daten haben eine Halbwertszeit und ein Verfallsdatum.“
Wie sehen Sie die Zukunft der Erinnerungskultur? Müssen die Institutionen Projekte wie Ihres mehr fördern?
Das Problem liegt oft weniger darin, finanzielle Förderung für die Entwicklung solcher Projekte zu erhalten, obwohl das der aufwendigste und teuerste Teil ist. Schwieriger ist es, längerfristige Unterstützung zur technischen Pflege, der pädagogischen Betreuung und vor allem der Verbreitung des Mediums zu sichern. Ich hielte es für begrüßenswert, wenn wir digitale Zeugnisse auch dort einsetzen könnten, wo Zeitzeugengespräche keine lange Tradition haben, beispielsweise an Mittelschulen oder auch in Jugendstrafanstalten. Dazu bräuchten wir aber eine breitere institutionelle Unterstützung.
Sehen Sie in der digitalen Archivierung auf diese Weise das Leben der beiden, als eine Unsterblichkeit?
Nein. Auch digitale Daten haben eine Halbwertszeit und ein Verfallsdatum, die oft völlig überschätzt werden. Übrigens hat sich sogar die Produktionsfirma „Forever Holdings“, mit der wir kooperiert haben, schon vor einigen Jahren umbenannt in „InTheRoom“. Eine angebliche Langlebigkeit des Digitalen hält also nicht einmal mehr als Werbeversprechen her.
Wie wir als Gesellschaft in Zukunft mit den Zeugnissen der Shoah umgehen, liegt an uns. Projekte wie das „Lernen mit digitalen Zeugnissen“ können dabei helfen, uns für dieses Thema zu sensibilisieren. Das Projekt arbeitet aktuell mit weiteren Zeitzeug*innen des Holocaust, etwa Sinti und Roma, sowie zukünftig auch mit DDR-Zeug*innen. Hier könnt ihr selbst mit den Zeitzeug*innen ’sprechen‘.
Beitragsbild: Dreharbeiten zu Eva Umlaufs interaktivem Zeugnis, England, 2019. (c) Bright White Ltd
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Ein spannendes Thema und ein wichtiger Beitrag zur Erinnerungskultur!
Ich finde es wichtig, solche Stimmen festzuhalten, um auch in Zukunft gedenken zu können.