Viel deutscher als Sichtschutzelement kann ein Wort wohl kaum sein. Wir lieben unsere Privatsphäre und verteidigen sie mit voller Leidenschaft. Was sich hinter den Buchsbaumhecken, Bambus-Balkonverkleidungen und Spitzenvorhängen unserer Mitmenschen abspielt, interessiert uns dagegen brennend. Unsere Autorin Emma Holzer hat sich umgehört und Anekdoten gesammelt, die zeigen, was neugierige Blicke in fremde Fenster enthüllen können.

„Sheriff“ war der Spitzname für den alten Mann in meiner Nachbarschaft, der das vorstädtische „Hier wacht der Nachbar“-Schild an der Wohngebiets-Einfahrt oftmals etwas zu ernst nahm. „Hallo, ich kenne Sie nicht, wohnen Sie hier?“ fragte er meine Mutter eines Tages mit kritischem Blick, als sie mit Kinderwagen an seinem Haus vorbeilief. Zu dem Zeitpunkt wohnte meine Familie wohlbemerkt bereits über ein halbes Jahr schräg gegenüber. Auch andere Bekannte von mir erzählen gerne von ihren eigenen „Dorfsheriffs“, die es sich regelmäßig mit einem Kissen auf der Fensterbank bequem machen und ein wachsames Auge auf die nachbarliche Lage haben. Als das „Deutsche Netflix“ bezeichnet Internetpersönlichkeit El Hotzo die sogenannten „Fenster-Rentner“ auf Twitter.

Tweet der Internetpersönlichkeit El Hotzo: "Deutsche Netflix" steht über Bild von zwei Rentner:innen, die auf Kissen gelehnt aus dem Fenster schauen

So sieht für El Hotzo das „Deutsche Netflix“ aus. (Screenshots des Tweets vom 24.05.2021)

Vielleicht wollen wir es uns nicht eingestehen, aber in allen von uns steckt vermutlich ein Stück Fenster-Rentner. Wie oft habe ich mit Freund*innen in Cafés den Fensterplatz gewählt, damit wir die draußen vorbeilaufenden Menschen beobachten können. „Geht die Person in den gegenüber liegenden Camp David Laden oder nicht?“ war ein Spiel, das wir in solch einer Café-Situation erfanden. Ein aufgestellter Polohemd-Kragen und Pilotenbrille wurden plötzlich zu viel mehr als nur einer Geschmacksverirrung, sie wurden zu einem von uns dazu gedichteten Lebensstil. Die Bindung, die wir zu fremden Nachbar*innen haben, geht oft noch darüber hinaus. Dadurch, dass man sie so häufig sieht, lernt man unweigerlich ihre Routinen und beginnt, ganze Lebensgeschichten um das Gesehene herum zu spinnen.

Genau solche Geschichten habe ich gesammelt. Die Beobachtungen reichen von den harmlosen Routinen alter und junger Pärchen bis hin zu mutmaßlichen Drogendeals und freizügigen Swingerpartys. Und vielleicht macht man sich nach dem Lesen zukünftig mehr Gedanken darüber, was man so vor dem eigenen Fenster preisgibt…

 

„Meiner alten WG wohnte ein junges Paar gegenüber. Wir haben super oft abends rüber geschaut, das war wie unser eigenes Kino. Wir haben beobachtet, wie sie Filme geschaut haben, wie sie gekocht haben, wie sie miteinander gestritten haben. Einmal haben wir aus Versehen sogar beobachtet, wie sie sich umgezogen haben. Wir hatten wildeste Theorien, z.B. wer der dominantere Part der Beziehung ist oder welcher Charaktereigenschaften die beiden jeweils besitzen könnten. Es war super verrückt, wenn wir sie dann mal auf der Straße gesehen haben, weil wir das Gefühl hatten, sie genau zu kennen, dabei hatten wir nicht mal einen Schimmer, wie die beiden heißen, wie alt sie genau sind und womit sie ihre Zeit außerhalb der Wohnung verbringen.“

 

Collage: Fenster und darin ein schwarz-weißes Bild eines Rentners, der ein Brettspiel spielt

„Wenn wir ihn für längere Zeit nicht gesehen haben, haben wir uns Sorgen um ihn gemacht.“

 

„In Tübingen habe ich ein Pärchen als Nachbarn gegenüber. Ich schätze sie sind beide um die 80 Jahre alt. Er ist leider oft mit Verbänden zu sehen, von einer weiteren Nachbarin habe ich erfahren, der Mann leidet an Hautkrebs. Ich kann die beiden sowohl von meinem Zimmer als auch vom Bad aus beobachten, bekomme immer ihren gesamten Tagesablauf mit. Frühstück um sieben, kurz frische Luft schnappen auf dem Balkon,und dann läuft leider den Rest des Tages der Fernseher. Sturm der Liebe hauptsächlich und alles andere, was eben bei ARD und ZDF im Mittagsprogramm so läuft. Oft habe ich das Gefühl, die beiden schweigen sich den ganzen Tag an und existieren nur nebeneinander.“

 

„Von unserer alten WG-Küche aus konnten wir in die Wohnung eines alten Mannes schauen, der stets einen Hut getragen hat. Jeden Morgen ist er zu dem Café an der Ecke spaziert und hat dort Kaffee trinkend und lesend seinen Tag verbracht; abends kam er zurück und hat sich an den Computer gesetzt und geschrieben. Immer, wenn wir ihn für längere Zeit nicht gesehen haben, haben wir uns Sorgen um ihn gemacht.“

 

Collage: Fenster und darin ein Mann mit gelbem Oberteil, der Raucht

„Da er immer ein gelbes Oberteil trug, nannten wir ihn ‚Herr Gelb‘.“

 

„In unserer ersten Wohnung hatten wir von unserem Schlafzimmer bzw. von der Küche aus einen guten Blick auf die Terrasse unseres Nachbars schräg gegenüber, der immer zum Rauchen draußen stand. Da er immer ein gelbes Oberteil trug (offensichtlich seine Lieblingsfarbe) nannten wir ihn ‘Herr Gelb’ und wunderten uns, wenn wir ihn nicht sahen (er rauchte viel und regelmäßig). Wenn wir ihn zufällig auf der Straße getroffen haben, haben wir uns gegenseitig gegrüßt bzw. zugenickt. Seinen richtigen Namen haben wir nie erfahren oder erfragt – für uns war er einfach Herr Gelb.“

 

„Mein Nachbar läuft mir so ziemlich jedes dritte Mal, wenn ich nach Hause komme, entgegen und telefoniert dann draußen mit Kopfhörern vor dem Haus, was ich immer durch’s Fenster mitbekomme. Insgesamt gefühlt täglich und auch richtig lang. Mein Tag ist komisch, wenn ich ihn nicht gesehen habe.“

 

Ein schwarz-weißes Bild mehrerer Balkone, Sprechblasen deuten an, dass sich zwei Kinder gegenseitig zurufen

„Wir fiebern immer mit, wenn ein kleiner Junge nach Nora ruft.“

 

„Im Haus gegenüber wohnt in der Dachgeschosswohnung ein kleiner Junge, etwa fünf Jahre alt, der an Sommertagen auf den Balkon gerannt kommt und mit Leib und Seele nach Nora, auch etwa fünf Jahre alt, aus der Erdgeschosswohnung ruft. Wir fiebern immer mit und freuen uns, wenn als Antwort ein genauso lautes ‘Otto!’ zurück nach oben schallt.“

 

Collage: Fenster, in dem man Hände sieht, die sich Päckchen reichen

„Wenn das Licht an war, konnte man den Schatten von zwei Personen betrachten.“

 

„Ich habe in einem ca. 1200 Jahre alten Gebäude gelebt. Gegenüber von meinem Fenster lag das Fenster einer Wohnung des Nachbargebäudes. Das Nachbarsfenster war zum Sichtschutz verschlagen, man konnte also nur schemenhaft Dinge erkennen, wenn das gelbliche Licht angeschaltet wurde. In meinen drei Jahren, in denen ich in der Wohnung gelebt habe, war das Licht durchschnittlich nur zweimal im Monat an, immer spät am Abend für maximal eine halbe Stunde. Zwei Erklärungsansätze habe ich dafür gefunden: Entweder ein Immobilienmogul, der die Wohnung gekauft und auf eine Restaurierung nach Corona wartet und ab und zu nach dem Rechten gucken wollte. Oder (und naheliegender nach zahlreichen Spiegel-Dokus): Die Wohnung wurde extra für größere Drogendeals gemietet. Wenn das Licht tatsächlich mal an war, konnte man meistens den Schatten von zwei Personen betrachten, die sich stehend im Raum gegenüberstanden. Was da drüben tatsächlich vor sich ging, werde ich leider nie erfahren.“

 

„In meinem Viertel wohnte eine alte Dame, die ich jeden Tag gesehen habe, wie sie mit dem Rollator vor ihrer Haustür saß und die Sonne genossen hat. Irgendwann haben wir uns beim Vorbeilaufen nett gegrüßt, aber nie mehr miteinander geredet. Ich hoffe, ihr geht es gut und sie genießt die Sonne auch jetzt noch.“

 

Collage: Fenster, in dem man Beine in Overkneestrümpfen und Unterwäsche sieht

„Immer wenn der Mann auf Flug ist, feiert die Frau Swingerpartys.“

 

„Meine Nachbarn, beide Piloten, wohnen gegenüber. Wenn sie mit dem Hund gehen, grüßen wir einander. Immer wenn der Mann auf Flug ist, feiert die Frau Swingerpartys. Ich kann in das Wohnzimmer reingucken, da stehen dann mehrere oberkörperfreie Frauen. Gefühlt weiß es jeder in der Nachbarschaft, außer natürlich der Mann.“

 

„Im Wohnkomplex nebenan, ein Stockwerk unter mir, lebt eine vierköpfige Familie in einer Drei-Zimmer-Wohnung mit Balkon. Dabei die Hauptfigur: Queen, ein mittelgroßer, flauschiger Berner Sennenhund. Der Balkon der Familie ist so neben meinem platziert, dass ich alles einsehen kann. Seit meinem Einzug vor ungefähr zwei Jahren guckt die Hündin stets zu mir hoch, wenn ich draußen bin. Das große, hechelnde Gesicht lächelt mich nahezu an. Einmal hat die Frau aus der Wohnung so lange laut ‘QUEEEEEN’ gen Balkon geplärrt, dass ich mir sicher sein konnte, sie meint den Hund. Seit ich ihren Namen kenne, versuche ich natürlich noch öfter ihre Aufmerksamkeit für mich zu gewinnen. Ich flirte aus acht Metern Entfernung mit einem Hund. Ein einziges Mal konnte ich der Hündin näherkommen, als der Junge von nebenan mit ihr Gassi ging. Ich lächelte den kleinen Besitzer an, wie man es halt tut, wenn man einen fremden Hund auf der Straße streicheln will. ‘Das ist Queen’, sagt der Junge monoton und zerrt die Hündin an der Leine an mir vorbei. Ich weiß, dachte ich.“

 

Anmerkung der Redaktion: Der Autorin sind alle Sprecher*innen bekannt. Damit sie und ihre Nachbar*innen nicht erkannt werden, haben wir auf die Nennung der Namen verzichtet.

Illustrationen: Emma Holzer

 

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