Denkt man an Fenster, so kommt einem vieles in den Sinn. Schöne Ausblicke ins Freie, intime Einblicke ins Private oder vielleicht der Blick auf die neusten Produkte. Was die wenigsten wissen: Neben Welten und Waren werden auch Menschen in Koberfenstern zur Schau gestellt.

Für einen kurzen Trip zieht es viele Menschen in das Herz der Niederlande: Amsterdam. Nicht nur die faszinierenden Grachtenhäuser, Museen und Coffee Shops, sondern auch das kuriose Rotlichtviertel De Wallen lockt Tourist*innen an. Neben all den Erotikgeschäften und Etablissements sind es vor allem die Koberfenster, die das Stadtbild in De Wallen prägen. Vom Rotlicht angestrahlt, reiht sich ein Koberfenster ans nächste. Wirft man nachts einen Blick durch die roten Vorhänge hindurch ins Innere, so offenbaren die Fenster traditionsgemäß einen Einblick in ein kleines, wohnliches Zimmer.

Doch anstatt Schaufenster- oder Spielzeugpuppen sitzen lebende Menschen an den Fensterfronten und bieten ihre sexuellen Dienste an. Die Fensterprostitution hat ihren Ursprung in der Geschichte der Niederlande, weshalb sie charakteristisch für das Land ist. Doch wie kam es zur Entstehung der Koberfenster? Und werden sie weiterhin so bestehen bleiben?

Fensterprostitution: Ein Zeitsprung in die traditionsreiche Vergangenheit

Wer mehr über die Entstehung erfahren möchte, der muss einen Blick durch das Fenster der holländischen Geschichte werfen. Die Prostitution hat im Rotlichtviertel De Wallen schon immer existiert. Allerdings war sie Gegenstand unzähliger Debatten und der Umgang mit dem Thema änderte sich ständig im Zuge jeweils neuer Ereignisse.

So war die Sexarbeit ursprünglich akzeptiert, wenn auch verpönt. Ab der niederländischen Revolte im Jahr 1578 wurden die Niederlande von Protestant*innen geführt, die ein Prostitutionsverbot erwirkten. Durch die Besetzung durch Frankreich im 19. Jahrhundert wurde es aufgehoben, da Zusammenkünfte zwischen Soldaten und Prostituierten typisch für die napoleonischen Kriege waren. Napoleon erlaubte die Prostitution unter der Bedingung, dass Prostituierte und Bordellbesitzer*innen sich registrierten. Kurz nach der Jahrhundertwende wurde 1911 das Bordellverbot eingeführt, sodass Sex-Arbeiter*innen nicht mehr wie gewohnt ihrer Tätigkeit nachgehen konnten.

Um dies zu umgehen, kam in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts die Fensterprostitution auf. Damit sie weiterhin ihre Dienstleistungen an den Mann bringen konnten, mieteten Prostituierte sich kleine Zimmer und setzten sich an die Fenster. Hinter halb verschlossenen Vorhängen erweckten sie den Anschein, als würden sie alltäglichen Dingen nachgehen. Doch in Wirklichkeit versuchten sie neue Kundschaft anzulocken. Allerdings war die Selbstdarstellung in Dessous sowie das Zwinkern in Richtung potentielle Freier nicht erlaubt. Anhand versteckter Zeichen in Form von Gegenständen oder Pflanzen, die sich am Fenster befanden, konnten die Interessenten die wahren Absichten entschlüsseln. Tagtäglich stellte dieser Drahtseilakt für lange Zeit die Realität der Prostituierten dar.

Die Legalisierung der Prostitution – Fluch oder Segen?

An den Koberfenstern ist Flirten und Feilschen angesagt, © Alejandro Forero Cuervo

Nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog sich endlich ein Wandel: Nicht nur die Rechtslage, sondern auch die Prostituierten wurde offener. Je mehr sich die Gardinen der Koberfenster öffneten, umso freizügiger stellten sich die Frauen in ihren wohnzimmerähnlichen Räumen zur Schau. In den sechziger Jahren erlebte die Branche dann einen Aufschwung: Immer mehr Fensterbordelle, Prostituierte und Erotikgeschäfte kamen dazu. Kaum ein halbes Jahrhundert später wurde im Jahr 2000 die Prostitution auf nationaler Ebene legalisiert und als offizieller Beruf anerkannt. Durch die neue Gesetzgebung konnten viele Dinge geregelt werden, die zuvor nicht möglich waren. Zur Gewährleistung von Schutz wurden alle Koberfenster mit einer Alarmanlage ausgestattet. Zusätzlich richtete die Polizei eine Patrouille in De Wallen ein. Auch ein Kamerasystem wurde eingeführt. Seither gab es auch unter anderem neue Anlaufstellen, die einen besseren Zugang zu Hygiene und Gesundheitspflege ermöglichten. Dadurch konnten Sex-Arbeiter*innen nun regelmäßig Hygieneartikel beziehen und sich auf Geschlechtskrankheiten testen lassen.

Allerdings stellte sich die Legalisierung als ein zweischneidiges Schwert heraus. Denn wegen der Legalisierung wurden Sex-Arbeiter*innen dazu verpflichtet sich zu registrieren. Das führte dazu, dass sie zu einem gewissen Grad ihre Privatsphäre aufgeben und ihre Identität preisgeben mussten. Damit ging auch für viele Betroffene eine Stigmatisierung und soziale Ausgrenzung aufgrund ihres Berufs einher. Innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte gab es aber auch immer wieder Ereignisse, die das Fortbestehen der Prostitution ins Wanken brachten – sei es der Anstieg von Kriminalität aufgrund der Legalisierung, die Corona-Pandemie, die Abstimmung bezüglich eines permanenten Verbots oder die potentielle Schließung der Koberfenster zugunsten der Errichtung eines neuen Erotikzentrums. Angesichts der Ereignisse zeigt sich deutlich: Die Fensterprostitution wird stets aufs Neue mit Herausforderungen sozio-politischer und auch gesundheitlicher Natur konfrontiert.

Wie die COVID-19-Pandemie über das Rotlichtviertel hereinbrach

Während der Corona-Pandemie blieben nicht nur tagsüber die Koberfenster zu, © Jean Carlo Emer

Die Pandemie hinterließ deutlich ihre Spuren in der Branche. Am 15. März 2020 wurden die Corona-Regeln eingeführt: Die nationalen Grenzen wurden dicht gemacht, Bars und Coffee Shops mussten ihre Pforten schließen und 330 Koberfenster blieben zu. Die Ausübung von Berufen, die intimen Körperkontakt erfordern, wurde verboten. Während des Lockdowns blieb vom blühenden Sex-Tourismus nicht viel übrig. Die Konsequenzen der Einschränkungen schlugen sich im Straßenbild von De Wallen nieder: leergefegte Straßen, keine Menschenseele in Sicht, das Rotlicht blieb aus und die Vorhänge der Koberfenster auf unbestimmte Zeit zugezogen. Das rege Treiben im Amüsierviertel stellte lange nur noch eine Erinnerung an bessere Zeiten dar. Darüber hinaus waren die Sex-Arbeiter*innen aufgrund der fehlenden staatlichen Unterstützung sowohl gesundheitlichen als auch finanziellen Risiken ausgesetzt.

Im Rahmen einer Studie an der Universität Rotterdam von 2020 wurden Interviews mit Sex-Arbeiter*innen durchgeführt, die von verschiedenen alltäglichen Unsicherheiten in Hinblick auf ihren Beruf berichteten. Beispielsweise zeigten sie sich unsicher bezüglich ihrer Arbeits-, Beschäftigungs- und Einkommenssicherheit. Auch ihre körperliche Gesundheit war insofern betroffen, dass neben den Geschlechtskrankheiten das COVID-19 Virus nun eine weitere Gefahr darstellte. Folglich befanden sie sich in einer Art beruflichem Limbo, den sie aufgrund von sozialer Stigmatisierung nicht laut kommunizieren konnten. Um ihr Überleben zu sichern, wichen viele von ihnen auf illegale Prostitution aus. Zum damaligen Zeitpunkt konnte niemand über die folgende Entwicklung wissen: Aufgrund der Corona-Pandemie kam es zu einem Anstieg von Aggression und Gewalt gegenüber Sex-Arbeiter*innen.

Durch die temporäre Schließung der Koberfenster mussten die Arbeiter*innen des Rotlichtviertels einer harten Realität ins Auge sehen. Erst im Sommer 2020 kam die Erlösung, als sie unter strikten Hygieneregelungen die Vorhänge ihrer Fensterfronten wieder öffnen durften.

Kürzere Arbeitszeiten und Bauprojekt Erotikzentrum

Rotlicht an und Vorhänge auf: Viele Tourist*innen besuchen nachts die Koberfenster in De Wallen, © Gio (@mikava)

Während sich die Geschäfte und Menschen in De Wallen langsam von den Folgen des Lockdowns erholten, kündigte der Amsterdamer Stadtrat dieses Frühjahr im Rahmen einer Kampagne neue Maßnahmen zur Entgegenwirkung des Übertourismus und der damit verbundenen Randale in De Wallen an. Am 1. April 2023 trat die Regel in Kraft, dass Geschäfte und Vergnügungsstätten am Wochenende früher schließen müssen. Auch der Konsum von Marihuana in den Straßen wurde verboten. Um das Rotlichtviertel weiter zu entlasten und ruhiger zu gestalten, stellte die Amsterdamer Bürgermeisterin Femke Halsema den Bauplan für ein Erotikzentrum vor. Das Zentrum soll außerhalb der Stadtmitte errichtet und Sex-Arbeiter*innen sollen dorthin verlagert werden. Ziel dabei ist es, den Ansturm an schaulustigen Tourist*innen zu reduzieren und fortan in ein anderes Stadtviertel zu lenken.

Raus aus den Koberfenstern – auf zum Protest

Während die Kampagne der Anwohnerschaft eine harmonische Zukunft verspricht, steht den Sex-Arbeiter*innen wegen der Maßnahmen erneut eine unsichere Zeit bevor. Bei einem Protest äußert sich Kenya, die seit siebenundzwanzig Jahren im Rotlicht-Milieu arbeitet, gegenüber der NL Times, dass sie die fehlenden Stunden benötigen, um neben der Tagesmiete für die Koberfenster genügend Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen. Durch die frühere Schließung der Fensterbordelle sei die Zeitspanne, in der sie Geld verdienen können, halbiert und sie seien dem Risiko ausgesetzt, trotz Arbeit leer auszugehen. Wie bereits zuvor kann es dazu führen, dass sie auf illegale Prostitution ausweichen müssen.

Seit 2023 leisten viele betroffene Sex-Arbeiter*innen Widerstand, indem sie gegen die Maßnahmen protestieren. Besonders die Schließung der Fensterbordelle sowie die Versetzung, die mit dem Bau des Erotikzentrums einhergehen soll, sind Gegenstände vieler lautstarker Demos. Denn aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen sind sich die Prostituierten bewusst, dass die Verlagerung ins Erotikzentrum fernab des Stadtzentrums auch gleichzeitig eine Existenz am Rande der Gesellschaft bedeuten würde. Ganz nach dem Motto: „aus den Augen, aus dem Sinn“.

Was auch für viele klar ist: Das weit abgelegene Zentrum könnte aufgrund seiner geschlossenen Bauart dazu beitragen, dass kriminelle Akte hinter verschlossenen Türen zunehmen könnten. Aus ihrer Perspektive bieten die Koberfenster wegen ihrer Transparenz und Sichtbarkeit einen guten Schutz. Zusätzlich versuchen die Sex-Arbeiter*innen mithilfe von Protestaktionen den Fortbestand der Koberfenster, sowie auch einen erhöhten Polizei-Einsatz in De Wallen zu erwirken. Im Juni 2023 gründeten sechsundzwanzig bekannte Unternehmen, Institutionen und Individuen des Rotlichtviertels eine Koalition und starteten eine Petition gegen den Bau des Erotikzentrums. Jedoch scheinen sie bei der Regierung auf taube Ohren zu stoßen. Denn bislang gibt es weder einen endgültigen Entschluss zur Umsetzung des Bauprojekts noch eine Reaktion auf die Forderungen.

Werden die Vorhänge der Koberfenster endgültig zugezogen?

Die Geschichte der Fensterprostitution ist tief verwoben mit der niederländischen Geschichte. Öffnet man das Fenster zur Vergangenheit, so offenbart sich, dass Holland auf eine lange Tradition der Koberfenster zurückblickt. Voraussichtlich wird zu Beginn des kommenden Jahres entschieden, ob und in welcher Location der potenzielle Bau stattfindet. Bis dahin bleiben in De Wallen die Vorhänge der Koberfenster weiterhin offen.

Doch könnte die Errichtung des Erotikzentrums tatsächlich das endgültige Aus der Fensterbordelle bedeuten? Wirft man einen Blick auf die Historie, so wird eins glasklar: Angesichts der vielen Herausforderungen war die Zukunft der Fensterprostitution stets ungewiss. Trotzdem existieren die Fensterbordelle bis heute noch. Es gibt also nach wie vor einen hoffnungsvollen Ausblick auf eine Zukunft, in der die Koberfenster weiterhin die Fassaden des historischen Rotlichtviertels schmücken.

 

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