Anette Ladovic vor dem Neuen Schloss

Tragödien, Morde und Intrigen: Anette Ladovics Geisterführungen bringen Stuttgarts düstere Seite zum Vorschein. Ein Abend, der den Blick auf die Stadt verändert.

Mit wallendem Gewand hastet Anette Ladovic über den Stuttgarter Marktplatz. In der rechten Hand trägt sie einen langen Stock, mit der linken versucht sie vergeblich, ihren Umhang im Wind zu bändigen. Es ist kurz vor neun, sie ist spät dran und wird bereits erwartet. Fünfzehn Teilnehmer*innen haben sich zu Füßen der bronzenen Stuttgardia versammelt. Als Schutzgöttin Stuttgarts soll sie die Gruppe während der Stadtführung vor bösen Geistern bewahren. „Ob das gelingt?“, fragt Ladovic in die Runde. „Wir werden sehen.“

Mit der düsteren Seite Stuttgarts kennt Ladovic sich aus. Seit März 2012 bietet sie gespenstische Stadtführungen und Nachtwanderungen an. Auf die Idee kam sie, nachdem sie selbst an einer Geisterführung in England teilgenommen hatte. Sie war begeistert, erzählte ihrem guten Freund und späteren Geschäftspartner Steffen Hammer davon. „Obwohl wir beide gebürtige Stuttgarter sind, kannten wir damals keine Stuttgarter Sagen“, sagt sie. Es folgten Recherchen gemeinsam mit ihrer Tochter Joy Ladovic im Internet, in Büchereien und dem Stadtarchiv sowie Gespräche mit Stuttgarter Historiker*innen. Denn die Geschichten sollten auf Tatsachen beruhen, nicht erfunden sein. Eineinhalb Jahre brauchten sie, bis ihre Recherchen abgeschlossen waren. Inzwischen ist Hammer an den Führungen der Stuttgarter Geister nicht mehr beteiligt, Ladovic lebt ihren Traum alleine weiter – und hat Angst, dass dieser irgendwann platzen könnte. Damit ihr niemand ihre Geschichten abspenstig machen kann, möchte sie nicht, dass diese irgendwo nachzulesen sind. Journalisten etwa dürfen nur über ausgewählte Sagen der Stadtführung berichten.

Konsumgüter statt Kadaver

Anette Ladovic vor dem Alten Schloss

Geister gehen um zwischen Altem und Neuem Schloss (Foto: Hannah V.)

„Das Gewässer, das Stuttgart geprägt hat, ist nicht etwa der Neckar, sondern der Nesenbach“, erklärt Ladovic. Sie hat die Gruppe inzwischen vom Marktplatz aus durch die schmale Bärenstraße geführt, um die Markthalle herum bis zum Stauffenbergplatz mit Blick auf das ein Jahr alte Dorotheenquartier. Dort wo sich Geschäfte wie Steiff, Hugendubel und Diesel aneinanderreihen, habe einst ein Schlachthaus direkt über dem Nesenbach gestanden. In den nicht nur die Metzger ihre Abfälle geworfen hätten: „Ob Blut von Aderlässen, Färber- und Gerbereiabfälle, Tierkadaver oder Fäkalien – wenn es eklig war und stank, dann landete es sicher unter Stuttgart im Nesenbach.“

Nur unweit des Schlachthauses sei einmal ein kleiner Bub in den Nesenbach gefallen. „In seiner Not fasste das Kind nach einem der beiden Griffe, die neben ihm aus der Brühe ragten“, erzählt Ladovic. Ihre Stimme dröhnt über den Platz, sie gestikuliert ausladend mit den Händen. „Doch die kleine Hand glitt stattdessen an einem nassen Horn ab, ein nasses Fell hinunter, bis sie letztlich in der leeren Augenhöhle eines Rinderkopfs Platz fand.“ Zwar habe der Vater den Jungen gerettet, aber dieser sei fortan von den Geistern toter Tiere heimgesucht worden. Er habe ihre Todesschreie gehört und ihre zerhackten Leiber gesehen.

Anette Ladovic vor dem Neuen Schloss

Gewitterwolken könnten ein Odinsheer verheißen (Foto: Hannah V.)

Ladovics Geschichten handeln vom Wahnsinn, Tod und Verderben. Manche haben ein tröstliches Ende, andere nicht. Besonders spannend findet die Geisterführerin dabei die Sagen und Legenden, die auch etwas über die jeweilige Zeit und Gesellschaft preisgeben: Wie haben die Menschen damals gelebt? An was haben sie geglaubt? So erzählt Ladovic der Gruppe im Hof des Neuen Schlosses, dass ein aufziehender Sturm früher weit mehr als schlechtes Wetter verhießen habe. „Wenn der Wind heulend um die Ecken fegte und Blitze über den Himmel zuckten, fürchteten die Menschen, dass ein himmlisches Totenheer des germanischen Göttervaters Odin käme und mit seinen feurigen Wagen – sprich den Blitzen – und seinen wilden Schimmeln – sprich dem Sturm – alles niederbrennen und niederreißen werde“, leitet die Geisterführerin ihre nächste Geschichte ein.

Begegnungen mit echten Geistern?

Mit wehendem Umhang schlängelt sich Ladovic wenig später zwischen den weißen Zelten des Stuttgarter Sommerfests hindurch, die sich auf dem Schlossplatz aneinanderreihen. Es ist eine laue Sommernacht und obwohl die Dämmerung sich langsam über den Talkessel senkt, sind noch viele Menschen unterwegs. Manche mustern die Geisterführerin verwundert, andere bemerken sie gar nicht. Aus der Ferne dringt die sich überschlagende Stimme des Kommentators herüber, der sich über das WM-Achtelfinale von Uruguay gegen Portugal ereifert. Bei all dem fällt es schwer, sich zu gruseln.

Es komme immer wieder zu sonderbaren Begegnungen mit echten Geistern, steht auf Ladovics Website. Bisher halten sie sich von der Gruppe fern. Auf die Frage, ob Ladovic selbst an Geister glaubt, folgt eine kurze Pause. „Ich habe noch nie eins gesehen“, sagt sie dann. „Das heißt aber nicht, dass es keine Geister gibt.“ Es ist eine sehr diplomatische Antwort. Manche Menschen sehen in Ladovic selbst eine phantastische Gestalt. Wenn sie in ihrer schwarzen Arbeitskleidung durch Stuttgart läuft, sich bei jedem zweiten Schritt auf ihren langen Stock stützt, bleibt das von Passanten oft nicht unkommentiert. „Ich bin wahlweise eine Hexe, Bibi Blocksberg, oder Gandalfs Tochter“, scherzt sie auf dem Weg zur letzten Geschichte.

Während Ladovic noch einmal alles gibt – ihren Stock in die Luft stößt, torkelnd einen Betrunkenen nachahmt und mit angsterfüllten Augen ihre Teilnehmer*innen mustert, sind diese eher zurückhaltend. Niemand stellt Fragen. Dennoch hat sich für viele von ihnen durch den Abend etwas verändert. „Wenn ich in Zukunft über den Schlossplatz gehe, werde ich bestimmt daran denken, wie Katharina Pawlowna – die Königin von Württemberg – einst von Liebeskummer geplagt hier aus dem Schloss rannte“, sagt die Stuttgarterin Ulrike Bauer*, die die Führung einer Freundin geschenkt hat. Ladovic beendet derweil die Geschichte über einen Geisterbeschwörer mit einer Pointe. Die Teilnehmer*innen applaudieren, bevor sie in die Stuttgarter Nacht entschwinden. Geister sind bis zuletzt nicht aufgetaucht. Die Stuttgardia hat ihre Aufgabe erfüllt – eigentlich schade.

* Name von der Redaktion geändert

 

Noch nicht genug von Gruselgeschichten? Auch in Tübingen gibt es Geisterführungen. Mehr dazu hier.

4 Kommentare
  1. Marie
    Marie sagte:

    Scheint eine richtige Gruselführung zu sein. Sehr interessant wenn man bedenkt, dass an allen Geschichten etwas Wahres dran ist.

  2. HumBoo
    HumBoo sagte:

    Du hast die Geisterführung sehr schön und interessant beschrieben. Ich kann mir gut vorstellen, wie sie ablief.

  3. Carina
    Carina sagte:

    Eine solche Geisterführung klingt ziemlich spannend! So kann man die Stadtgeschichte noch einmal auf eine ganz andere Art kennenlernen. 🙂

  4. Johannes
    Johannes sagte:

    Sehr interessanter Artikel: Ich wusste nicht, dass es solche Führungen in Stuttgart gibt. Allerdings kann ich mich erinnern, dass wir in der Grundschule auch die Stuttgarter Sagen besprochen haben. Im Kopf ist mir noch die Geschichte von der Weißen Frau: Wenn eine adelige Person im Alten Schloss starb, soll zuvor eine „Weiße Frau“ von der Stiftskirche zur Königsgruft gewandelt sein.

    Richtig gruselig fand ich Stuttgart aber schon damals nicht – abgesehen von einigen Bausünden aus der Nachkriegszeit 😉

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