Ein Essay über Ausblicke, Ausschnitte, Realitäten und nicht-so-reale-Realitäten. Und darüber, weshalb soziale Medien ein Fenster zu einer (scheinbar perfekten) Welt sein können und warum es sich lohnt, auch mal die digitalen Jalousien zu schließen.

Montagnachmittag, 16 Uhr. An der Wilhelmstraße in Tübingen brettern Busse, Autos, Fahrräder und E-Scooter die Straße entlang. Der Geräuschpegel zeugt von Geschäftigkeit, Alltag, Arbeit und Freizeit. Auf der rechten Seite der Wilhelmstraße erstreckt sich eine Bushaltestelle, vor der sich die Menschen drängen. Alt, jung, groß und klein stehen hier und vertreiben allein ihre Zeit bei der gemeinsamen Warterei. Zwar sind sich die meisten Menschen hier fremd, dennoch haben sie eines gemeinsam: der Blick gesenkt, der Rücken gekrümmt, in der Hand ein Ding, durch das sie den Geräuschpegel und die vorbeiziehenden Menschen vergessen – ihr Smartphone. Fast wie in Trance starren die Leute auf das kleine Gerät in ihrer Hand, abgelenkt und eingetaucht in die digitale Welt. Bei der Frage, was die meisten denn so gerade am Handy machen, kommt am häufigsten die Antwort „Ich hab grad irgendwie so ein bisschen durch Instagram gescrollt“ oder andere haben sich die Zeit mit TikToks vertrieben.

Irgendwie erinnert mich dieser Gedanke des Abtauchens in die sozialen Medien an den Blick aus dem Fenster. Zuhause angekommen versuche ich, den Ausblick aus meinem eigenen Fenster bewusst wahrzunehmen. Mein Fenster setzt mir einen Rahmen und gibt mir einen Ausblick oder fast schon mehr einen Ausschnitt aus der Realität. Was kannst du entdecken, wenn du aus dem Fenster schaust? Vielleicht siehst du ein Stück Natur, einen Teil der Stadt oder verschiedene Wohnhäuser, die um dich herum erbaut worden sind. Doch bekommen wir durch den Ausblick aus dem Fenster ein Gefühl für die Welt außerhalb unseres Zuhauses? Nicht wirklich. Wir sehen einen begrenzten Rahmen, einen kleinen Teil der Welt und des Raums, der unsere Umgebung darstellt. Der Blick aus dem Fenster zeigt uns also einen Auszug der Wirklichkeit. Und genau das erinnert mich an Social Media.

Die Menschen an der Wilhelmstraße sind in ihr Smartphone versunken. ©Melanie Meyer

Ein Ausschnitt der Realität

Wenn wir versinken in der digitalen Welt von Instagram, TikTok und Co., sehen wir lauter schöne Menschen, die uns ihr schönes Leben mit ihren schönen Freund*innen präsentieren. Wir erhaschen einen vermeintlich privaten Einblick, als würden wir vor ihrem Fenster stehen und einfach zuschauen dürfen. Das Öffnen der Social-Media-Apps erscheint wie das Öffnen eines Fensters, wir werden rausgezogen aus unseren vier Wänden, aus unserer Realität und finden uns wieder inmitten einer surrealen, digitalen Welt. Soziale Medien haben sich zu einem Fenster entwickelt, durch das wir einen Blick auf die Welt werfen können. Obwohl der Begriff ‚Fenster‘ normalerweise mit physischen Räumen in Verbindung gebracht wird, eröffnen uns auch Social Media Plattformen neue Möglichkeiten, um Informationen zu erhalten, uns auszudrücken und mit Menschen auf der ganzen Welt zu interagieren. Was bietet uns dieses digitale Fenster?

Look inside, look outside, connect and explore

Soziale Medien ermöglichen es uns, über jegliche Grenzen hinweg zu kommunizieren und mit Menschen auf der ganzen Welt zu interagieren und uns zu verbinden. Durch dieses digitale Fenster können wir Brücken zwischen uns und anderen Kulturen bauen und internationale Verbindungen schaffen. Durch das digitale Fenster der Social Media Plattformen haben wir die Möglichkeit, uns mit Informationen zu versorgen und uns eine Meinung zu bilden. Wir sind nicht mehr auf traditionelle Medien als einzige Quelle für Nachrichten angewiesen, sondern können auf vielfältigere Perspektiven und Stimmen zugreifen. Darüber hinaus kann jede*r zum Sender oder zur Senderin werden und eigene Inhalte produzieren. Das digitale Fenster der sozialen Medien ermöglicht es uns, unsere Geschichten zu erzählen und eine digitale Identität aufzubauen. Wir können Interessen und Gedanken präsentieren und Menschen finden, die das mit uns teilen.

Doch nicht wirklich dabei gewesen

Ein Ausschnitt der Welt durch mein Fenster. ©Melanie Meyer

Schauen wir nochmal gemeinsam aus dem Fenster und erinnern uns daran, was uns bewusst geworden ist. ‚Ausschnitt‘, ‚begrenzter Raum‘ und ‚Ausblick‘ sind die Begriffe, die mir wieder in den Sinn kommen. Auf der einen Seite wissen wir, welche Möglichkeiten und Vorteile soziale Medien mit sich bringen. Doch auch hier sollten wir uns fragen, ob das wirklich so ist.

Vielleicht folgt man Personen auf Instagram, die viel reisen und uns auf Erkundungstouren durch verschiedene Länder mitnehmen. Auf unserem Smartphone erleben wir diese Reise irgendwie mit. Influencerinnen wie Liz Kaeber und Yvonne Pferrer haben über eine Millionen Follower*innen auf Instagram und nehmen ihre Zuschauer*innen mit auf die Reise – mithilfe von Fotos, Reels und Stories. Wenn ich mir viel Reise-Content angeschaut habe, habe ich schon fast das Gefühl, selbst dabei gewesen zu sein. Die Wahrheit ist jedoch, dass ich alles durch mein kleines Fenster, beziehungsweise durch mein Smartphone betrachtet habe – wirklich dabei gewesen bin ich nicht.

Soziale Medien sind also irgendwie das, was auch ein Fenster ist – ein Ausschnitt und ein Auszug aus unserer Welt. Nicht alles, was wir auf Instagram und Co. entdecken und konsumieren, entspricht der Realität. Und gerade Influencer*innen zeigen sich und ihr Leben häufig von der besten Seite. Was wir also auf den Plattformen sehen ist nur ein Ausblick aus unseren digitalen Fenstern. Viel zu oft lassen uns diese Ausblicke mit negativen Gefühlen zurück. „Warum ist mein Leben nicht so perfekt? Wieso bin ich nicht so gut in Form wie die ganzen Influencer*innen? Weshalb sind alle ständig im Urlaub und ich nicht?“ Überrannt von diesen Gefühlen lohnt es sich kurz innezuhalten und sich darauf zu besinnen, dass wir jederzeit die Fenster und Jalousien schließen können. Wieder auftauchen in unsere eigene Realität, fernab von der scheinbar perfekten Welt.

Titelbild ©pexels

 

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