Shock Ventilation – #germanwindows und deutsche Lüftkultur

Na, wurde dir auf deiner For-You-Page bei TikTok auch schon mal ein Video vorgeschlagen, in dem sich nicht-deutsche User*innen über die Gegebenheiten deutscher Fenster echauffieren? War dein Algorithmus nach zwei bis drei dieser Videos völlig ruiniert und du musstest #germanwindows wochenlang verfolgen? Nein? Dann erzähle ich dir jetzt, was du verpasst hast. 

Ein Mann öffnet ein Fenster auf Kipp, schreckt panisch zurück und versucht im selben Moment hektisch das Fenster festzuhalten. Ihm steht der Schock ins Gesicht geschrieben, weil er davon ausgeht, dass ihm das Fenster jetzt direkt entgegenfällt: „American Husband tries to open German window for the first time“. Im Hintergrund schallendes Gelächter der Ehefrau dieses sichtlich erschrockenen Mannes, die ihm zuruft: “This is called on Kipp!“.

@laedwards_family

There are so many differences that nobody talks about. I was here searching how to push open the window when in reality, there is a whole handle for it and then you have the opportunity to open the window two different ways.. auf kipp or completely. Our Germany trip is full of surprises. #germanytrip #german #deutschland #fensteraufkipp #americaningermany

♬ original sound – LaEdwards_Family

Eine Frau steht vor einem normalen, brusthohen, weißgerahmten Fenster und fängt an dieses zu öffnen. Mit Einsetzen einer erbaulichen Filmmusik und deskriptiven Untertiteln ist ein Tutorial erkennbar:„German Windows – 2 Ways: 1. Open“. Die Frau dreht den Fenstergriff langsam in die Mitte und öffnet das Fenster behutsam, ein kurzes Nicken in die Kamera, dann wird das Fenster wieder geschlossen. „2. Tilt“. Die Frau dreht den Griff im Uhrzeigersinn nach oben und öffnet das Fenster auf Kipp. Zur Sicherheit hält sie ihre linke Hand ans Fenster und lächelt stolz in die Kamera. Sie hat das Fenster … gekippt.

@criszyforyou

Two-way german window 😃 🇩🇪function that makes sense. 😉 #pinayingermany #germany #germanwindows #europe

♬ Funny – Gold-Tiger

Nach diesen zwei TikToks auf meiner sonst sehr fein-säuberlich durch den von mir gezüchteten Algorithmus kuratierten For-You-Page musste ich direkt aufstehen. Wahrscheinlich sehr zur Verwirrung meiner direkten Nachbarn habe ich mein Balkonfenster sehr bewusst geöffnet, gekippt und wieder geschlossen. Alles wie immer. Warum ist das denn jetzt bei TikTok? Ist irgendwas passiert? Ist jetzt was falsch mit meinen Fenstern? Macht man das jetzt nicht mehr so, Fenster kippen? Ein zweites Mal: Griff nach rechts: offen, Griff nach oben: gekippt, Griff nach unten: zu.

Warum ist mein Kippfenster so special?

Was mir meine mit Glas geschlossenen Wandlöcher nicht beantworten können, kann das Internet auch nicht so wirklich. Neben den 24,9 Millionen Aufrufen, die #germanwindows auf TikTok generiert, gibt es auch etliche Youtuber*innen, die minutenlang ekstatisch von ihren Erlebnissen mit deutschen Fenstern berichten.

Tischlermeister Gero Keuthen baut beruflich Fenster ein und kennt sich mit Fenster-Vorschriften aus.

Warum diese futuristischen, in mehreren Modi bedienbaren Wandelemente scheinbar nur in Deutschland die Norm sind, erklärt mein Bruder Gero Keuthen ganz pragmatisch: „Das ist ein Standard, der sich in Deutschland bewährt hat. Grundsätzlich kann aber jeder die Variante von seinen Fenstern selbst bestimmen, eine Pflicht besteht nicht.“

Gero Keuthen ist Tischlermeister in einer großen Firma. Damit gehört nicht nur das Ein- und Ausbauen von Fenstern zu seinem Tagesgeschäft – er ist immer auf dem neuesten Stand von Vorschriften, Normen, Gesetzen und administrativen Prozessen, die den Einbau von Fenstern in Deutschland betreffen.

Fenster aus Glas gibt es schon eine ganze Weile, aber das Öffnen stellt die Menschheit immer wieder vor Probleme. Die Krux: die Griffolive, also der Griff des Fensters, muss eine kreisförmige Drehbewegung ermöglichen, um den Verschluss des Fensters in verschiedene Modi freizugeben. Erst im zwanzigsten Jahrhundert, als das Kanteneckgetriebe auf den Markt kam, war es möglich, Fenster sowohl wie eine Tür zu öffnen, als auch um bis zu 15 Grad zu kippen.

„Mittlerweile hat es aber auch viel mit den vorgeschriebenen Lüftungsverhältnissen zu tun“, ergänzt Gero Keuthen und öffnet damit ein ganz neues Fenster. Denn, schockierender noch als die kippenden Fenster an sich scheint der Zweck zu sein: „In Germany we don’t say: Wow it looks really cold outside today. I think I’ll keep all the windows shut. We say: Stoßlüften.”

Stoßlüften, oder wie es auf TikTok liebevoll übersetzt wird: Shock Ventilation

„Das vorgeschriebene Lüftungsverhalten in Deutschland hängt damit zusammen, ob es ein Altbau oder ein Neubau ist. Grundsätzlich ist vorgeschrieben, dass neu eingebaute Fensterelemente absolut luftdicht nach innen und schlagringdicht nach außen eingebaut werden”, erläutert Tischlermeister Keuthen. „Das heißt also, in einem Neubau kommt dann absolut keine Luft mehr raus bzw. neue Luft rein. Deshalb muss man mindestens dreimal am Tag lüften, auch über längere Zeit, sonst kann sich Schimmel bilden.”

In alten Gebäuden sind die Fenster nicht so dicht verbaut, deshalb sind diese Regeln fürs dauerhafte Lüften gegen Schimmel eigentlich nicht anwendbar, aber hier ergibt das Stoßlüften Sinn: nur zum gefühlten Luftaustausch.

Ein neues Fenster, das darauf wartet, eingebaut zu werden.

Heutzutage mit modernen Neubaufenstern müsste eigentlich das Gegenteil des allseits geliebten deutschen Stoßlüftens praktiziert werden, sagt Gero Keuthen: dauerhaft Fenster offen.

Fensterloch ohne Fenster drin.

Aber es wird als unangenehm empfunden, wenn ständig das Fenster weit geöffnet ist und besonders energieeffizient ist es auch nicht. Die Lösung: Fenster auf Kipp, dafür gibt es die Funktion schließlich. Da man das aber auch keinem mehr zumuten kann, werden in neue Fenstersysteme mittlerweile kleine Nuten als Zwangsluftaustausch eingebaut – also es wird eine kleine Vertiefung (circa 70 – 100 mm breit) in das Gummi der äußeren Dichtungsebene des Fensters geschnitten oder sogar ganz ausgelassen, damit Luft eindringen kann. Dadurch wird Bewohner*innen das Lüften nicht gänzlich abgenommen, aber dennoch eine stetige Luftzirkulation gewährleistet, falls sie nicht eigenständig lüften sollten.  

Schimmelt es in anderen Ländern nicht oder warum ist das „so deutsch“?  

In Österreich und der Schweiz sind die Standards des Fenstereinbaus ähnlich penibel und eindeutig geregelt wie in Deutschland. Wenn man aber weiter schaut, vor allem auf die wärmeren Kontinente, finden sich keine einheitlichen Verbauungsvorgaben und generell sehr viel geringere Standards.

Man könnte zum einen also das amerikanische Fenster mit denen aus unseren Altbauhäusern vergleichen, wo die Undichtheit für Lüftung sorgt. Ebenfalls sind die Fenster in England eher durchlässig, obwohl das englische Wetter meist nicht zu einer Dauerlüftung einlädt. Zum anderen ist es in vielen heißen Ländern üblich, eine Klimaanlage für jeden Innenraum zu betreiben. Diese sorgt für Frischluftaustausch, quasi wie ein konstant gekipptes Fenster.  

„Das Kippfenster ist in den heutigen Passiv-Haushalten essenziell, um für eine wohlfühlende Frischluftzufuhr in den Häusern zu sorgen und trotzdem noch hohe Wärmedämmwerte zu erzielen“, fasst Gero Keuthen zusammen. Schließlich kann man also sagen, wir brauchen Kippfenster, weil wir unsere Häuser und Wohnungen immer effizienter und dichter bauen wollen, gleichzeitig trauen wir uns als Bewohner*innen kein regelmäßiges Lüften zu und machen daher wieder Löcher in unsere superdichten Fenster, sodass automatisch gelüftet wird, wie bei Altbau- oder amerikanischen Fenstern. Der unterm Strich bleibende Nutzen ist die Verwirrung jener Ausländer*innen, die das allererste Mal ein deutsches Fenster öffnen.  

Beitragsbild: © Klara Keuthen

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