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Tagträume können uns dabei helfen, für einen Moment dem Alltag zu entfliehen, unser Hirn beim Finden von kreativen Lösungen zu schulen, uns mit dem eigenen Inneren auseinanderzusetzen oder Pläne für die Zukunft zu schmieden. Doch was, wenn Tagträumen vom netten Zeitvertreib zu einer ausgeprägten Sucht wird?

Als Superheld*in die Welt retten, dem umschwärmten Charakter der Lieblingsserie näherkommen oder einer Zombie-Apokalypse entrinnen – mit solchen Tagträumereien hat sicher jeder schon einmal dem Eskapismus gefrönt. Ob aus Langeweile, Alltagsflucht oder als spannendes Gedankenspiel, Tagträumen als solches ist eine normale Gehirnaktivität und vollkommen unbedenklich. Problematisch wird es erst, wenn man aus der eigenen Traumwelt keinen Ausweg mehr findet und das Fantasieren zur Sucht wird. Dann gilt das Tagträumen als fehlangepasst – oder maladaptiv.

Gleichzeitiges Konsumieren und Dealen

Viele Betroffene verbringen einen Großteil ihrer Zeit in der eigenen Fantasiewelt. Dabei vernachlässigen sie schulische und berufliche Aufgaben. Sie vergessen Mahlzeiten und Hygiene und isolieren sich von Freund*innen und Familie. Jeder Anreiz kann ein Auslöser für neue Geschichten sein, mit welchen sie sich vom täglichen Leben zurückziehen. Tagträume folgen oft Idealversionen der Träumer*innen und  kompensieren damit Lebensaspekte, die ihnen selbst nicht vergönnt sind. Sie handeln von Freundschaften, Abenteuern, Ruhm und Liebe – häufig aber auch von Gewalt, Mord und Gefangenschaft. Dabei entstehen komplexe, detaillierte und lebendige Geschichten, die starke Emotionen bei den Tagträumer*innen hervorrufen.

Viele führen bei ihren Traumreisen repetitive Bewegungen aus, hören emotionsgeladene Musik oder sprechen und murmeln das Vorgestellte vor sich hin. Ähnlich wie bei anderen Süchten jagt das Beenden der Fantasien den Betroffenen oft Angst ein. Manche empfinden auch eine Art Zwang, die Geschichte bis zu einem befriedigenden Ende durchzuspielen. Und selbst wenn ein Weg aus der Traumwelt gefunden wird, gestaltet sich ein Wiederaufnehmen viel zu einfach: Schließlich ist man Konsument*in und Dealer*in in einer Person und benötigt dafür nicht einmal eine Substanz.

Das Phänomen bekommt einen Namen

2002 tritt der israelische Forscher Eli Somer mit den Ergebnissen einer Studie über dissoziative Verhaltensweisen an die Öffentlichkeit. Sechs der 24 Proband*innen berichten von einer geheimen, inneren Fantasiewelt, die ihren Alltag stark im Griff hat. Maladaptive Daydreaming tauft Somer das Leiden und plädiert für eine Aufnahme in das DSM-5, das dominierende Klassifikationssystem für psychische Erkrankungen in den USA. Die Forschungsgemeinde ist jedoch unbeeindruckt und Somer stellt seine Arbeit ein. Kurz darauf erreicht ihn eine Flut von Nachrichten Betroffener. Diese werden von ihren Ärzt*innen und Psycholog*innen nicht ernst genommen und rufen Somer dazu auf weiterzumachen. Somer und sein Team beschäftigen sich seither an der Universität Haifa mit den Ursachen, Strukturen und Funktionen des maladaptiven Tagträumens. Die neu entwickelte Maladaptive Daydreaming Scale soll die Störung diagnostizierbar machen und von anderen psychischen Erkrankungen abgrenzen.

Kindheitstrauma, Dopaminmangel oder Veranlagung?

Die Ursachen und Auslöser des maladaptiven Tagträumens sind noch nicht vollständig geklärt. Bei allen von Somer und seinem Team bisher untersuchten Proband*innen begann das intensive Tagträumen bereits im Kindesalter und war häufig mit unangenehmen Kindheitserfahrungen verbunden. Bis ins Erwachsenalter wiederholen sich oft die gleichen Motive. Ganz nach freudscher Deutung könnte das mit der Verarbeitung von Kindheitstraumata oder unausgesprochenen Wünschen und Bedürfnissen einhergehen. Somer berichtet beispielsweise von Missbrauchsopfern, welche davon träumen, als Superheld*innen die Welt zu retten. Dabei geht es häufig um eine Kompensation der eigenen Hilflosigkeit im Angesicht ihrer Vergangenheit.

Doch nicht immer sind die Tagträume von eigenen Heldentaten bestimmt: Viele Betroffene inszenieren gedanklich ihren eigenen Tod oder würzen ihre Tagträume mit anderen Tragödien. Somer vermutet dahinter eine innere Traurigkeit, welche – insbesondere für Menschen mit Traumata oder Schwierigkeiten in der Emotionsregulation – zu bedrohlich wirkt, um sie im realen Leben im selben Maß zu empfinden. Im Tagtraum wird dann ein sicherer Rahmen geschaffen, in welchem die Intensität des Schmerzes reguliert werden kann.

Doch auch fehlerhafte neurologische Abläufe im Gehirn werden als Ursache für maladaptives Tagträumen vermutet. Somer und sein Team fanden heraus, dass die häufigste parallel auftretende Erkrankung die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zu sein scheint. Die erhöhte Häufigkeit von Tagträumen bei ADHS-Betroffenen ist bereits erforscht: Die neuronalen Aktivitäten Betroffener laufen zwar ständig auf Hochtouren, die Fähigkeit zur Konzentration ermüdet jedoch durch einen Dopaminmangel enorm schnell. Das unaufhörlich weiter ratternde Hirn liefert so immer wieder neuen Input für Tagträume. Zusätzlich schüttet das Tagträumen hohe Mengen an Dopamin aus – ein gefundenes Fressen für das beeinträchtigte Belohnungszentrum des ADHS-Hirns.

Weitere Zusammenhänge wurden insbesondere mit Zwangsstörungen, Depressionen und dissoziativen Störungen festgestellt. Annehmbar ist also, dass einem krankhaften Tagträumen vor allem zunächst andere Probleme zugrunde liegen. Somer und sein Team ziehen jedoch auch eine generelle Veranlagung zu immersiven und lebhaften Tagträumen in Betracht. Einige maladaptive Tagträumer*innen stellen schon früh fest, dass sie ihre Fantasien dem echten Leben gegenüber bevorzugen, und beginnen nach und nach letzteres zu vernachlässigen. Der dadurch entstandene Stress lässt Betroffenen oft keine andere Wahl als eine erneute Flucht in die Traumwelt: ein Teufelskreis.

Die Sensibilisierung für ein Störungsbild

Trotz zahlreicher Bemühungen haben es die Forscher*innen um Eli Somer bis heute nicht geschafft, einen Eintrag des Maladaptiven Tagträumens in das DSM-5 zu erwirken. Das Phänomen sei viel zu schwer von anderen psychischen Erkrankungen abzugrenzen und ginge nicht immer eindeutig mit einem Leidensdruck einher. Doch ihre Arbeit ist keineswegs umsonst: MDler*innen – wie sich Betroffene selbst bezeichnen – organisieren sich in zahlreichen Internetforen, schreiben auf persönlichen Blogs über ihre Erfahrungen oder tauschen sich in Subreddits, also Unterforen auf der Plattform reddit, untereinander aus. Mit „Wild Minds Network“ ist sogar eine eigene Support-Website entstanden. Betroffene finden sich dort weltweit zusammen, sammeln Informationen und unterstützen sich gegenseitig bei der Bewältigung. Eli Somer und sein Team haben es in jedem Fall geschafft, den Startschuss für eine Sensibilisierung zu setzen, und der hat selbst uns in diesem Blog erreicht.

Titelbild: © Annette Linnik

 

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Kopf mit bunter Wolke Träume

Manche Geister sind realer, als man denkt. Wenn man mit Depressionen lebt, ist es andauernd so, als würde man von Gespenstern verfolgt. Diese Gespenster kann man nur besiegen, wenn man sie konfrontiert. Ein Erfahrungsbericht.

Wenn man mit Depressionen lebt, ist es ein bisschen so, als würde man konstant von Geistern verfolgt. Diese Geister sind anhaltende Traurigkeit, oft über Tage oder sogar Wochen. Schlaf- und Essstörungen. Lustlosigkeit und Selbstisolation. Selbstverletzende Tendenzen und Ängste. Im schlimmsten Fall sind es Selbstmordgedanken oder -versuche. Weltweit sind es mehr als 300 Millionen Heimgesuchte. Allein in Deutschland sind über fünf Prozent der Bevölkerung betroffen. Unsere Schreckgespenster sind Depressionen.

Dreierlei Gespenster

Bildquelle: Volkan Olmez /​ Unsplash

Wenn ich von Depressionen als Gespenstern schreibe, hat das viele Gründe. Der eine ist, wie schon erwähnt, dass die Symptome und die Krankheit selbst die Betroffenen heimsucht, wie böse Geister, ohne Ankündigung und oft ohne Gründe. Es ist nicht überraschend, dass in religiösen Kreisen bis heute Depressionen oft als Zeichen dämonischer oder geisterhafter Besessenheit gedeutet werden. Betroffene können sich ihren Zustand oft selbst nicht erklären. Angehörige stehen dem häufig hilflos und unverständlich gegenüber.

Der zweite Grund, warum ich Depressionen mit Geistern gleichsetze, ist, dass Menschen mit Depressionen oft selbst zu Geistern werden. Man kapselt sich von der Gesellschaft ab und erfindet Ausreden dafür, nicht aus dem Haus zu gehen. Bekannt ist das Bild davon, tagelang kaum das Bett zu verlassen. So geht es vielen Betroffenen, und auch enge Angehörige kriegen davon leider oft nichts mit.

Der dritte Grund dafür, dass Depressionen wie Gespenster sind, ist ein gesellschaftlicher. Trotz der Allgegenwärtigkeit der Krankheit wird über Depressionen immer noch sehr ungern gesprochen. Ebenso wenig wie über Selbstmord und Suizidgedanken. Wie einen bösen Geist versucht man sie zu ignorieren. Doch Geister kann man nur besiegen, wenn man sie konfrontiert und sich den Gespenstern stellt.

Nicht böse, nur uninformiert

Dass Depressionen in der Öffentlichkeit nicht allzu gerne behandelt werden, kann für Betroffene fatale Folgen haben. Durch fehlendes Wissen sind allerlei Gerüchte oder Falschinformationen über Depressionen im Umlauf. Menschen setzen Depressionen gerne mit Traurigkeit gleich. Traurig zu sein ist jedoch nur ein Symptom von Depressionen. Medikamente können helfen, dieser tief verwurzelten Traurigkeit Herr zu werden. Entgegen dem Glauben vieler Menschen machen Antidepressiva nicht süchtig.

Frauen sind weltweit häufiger depressiv als Männer, doch Männer sind gesellschaftlich bedingt oft weniger fähig, sich ihre Krankheit einzugestehen oder Hilfe zu suchen. Zudem sind Depressionen keine rein psychischen Zustände, sie können auch erblich bedingt sein und manchmal ohne Anlass und selbst bei intaktem Umfeld auftauchen. Der klassische Ausruf hierbei ist wohl: „Warum bist du denn depressiv, dir geht es doch gut?”

Derlei Unverständnis ist meines Erachtens nach und aus persönlicher Erfahrung selbst im besten Fall nicht hilfreich. Im schlimmsten Fall ist es schädlich und mitunter lebensgefährlich. Allerdings ist es auch verständlich, dass man sich ungerne über solche düsteren Themen unterhält oder sich damit auseinandersetzt. Solche Verhaltensweisen in der Gesellschaft sind also nicht bösartig, egal wie fatal die Folgen auch sein können. Sie zeugen allerdings von gefährlicher Ignoranz. Dass ein Wandel im Gange ist, durch soziale Medien und öffentliche Initiativen, ist jedoch positiv anzumerken, so können sich in sozialen Netzwerken betroffene finden und sie liefern Kanäle, über die Krankheit offen zu sprechen.

Die Geister meines Lebens

Bildquelle: Lukáš Rychvalský /​ Stocksnap /​ CC0

Dieses Thema bedeutet mir persönlich sehr viel. Denn auch meine Geister sind Depressionen. Es ist noch nicht lange her, dass ich alleine zuhause war und ernsthaft darüber nachdachte, wie ich einen Suizid am geschicktesten anstellen könnte. Es ist nicht lange her, dass meine Mitbewohner*innen mich tagelang nicht gesehen haben und ich mir nur die Zähne geputzt habe, wenn ich unbedingt aus dem Haus musste, an die Uni oder zur Arbeit. Damals habe ich mich selbst wie ein Geist gefühlt. Ich fühlte mich alleine, hilflos und unverstanden. Obwohl ich viele gute Freund*innen und eine tolle Familie habe. Meine Krankheit und mein eigenes Unwissen haben mich viele Jahre meines Lebens gekostet.

Heute geht es mir besser. Ich habe mich meinen Geistern gestellt und mir Hilfe gesucht. Diese habe ich dann auch erhalten, wenn auch mit einigen Umständen. Denn ein weiteres Problem ist die Erwartungshaltung, dass depressive Menschen sich selbst Hilfe suchen und monatelange Wartelisten in Kauf nehmen. Das alles mit Ängsten und Motivationsproblemen. Hier ist leider noch einiges zu tun.

Sollte irgendjemand diesen Text lesen, der selbst betroffen ist oder Betroffene kennt, die mit ihren Geistern zu kämpfen haben, dem sollte zuletzt das hier noch gesagt sein: Es ist keine Schwäche, sich Hilfe zu suchen. Es ist auch nachvollziehbar, hilflos zu sein, wenn andere betroffen sind. Manchmal reicht es, zuzuhören. Manchmal reicht es, einfach nur da zu sein.

Stellt euch euren Geistern

Wer sich selbst seinen Geistern stellen will, dem seien diese Nummern ans Herz gelegt:

Info-Telefonnummer der Deutschen Depressionshilfe: 0800 3344533

Telefonseelsorge: 0800 111 0 111; 0800 111 0 222; 116 123

In Baden-Württemberg gibt es zudem den Arbeitskreis Leben, der an vielen Orten aktiv ist und oft kurzfristig Hilfe bieten kann. Weitere, tiefer gehende Hilfe muss oft psychiatrisch und/oder psychotherapeutisch erfolgen. Sich Hilfe zu suchen, um mit seinen Geistern nicht allein zu sein, ist jedoch keine Schande und jeder ist es wert, diese Hilfe auch zu erhalten.