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Hast du schon mal einem Soldaten am Bahnhof dafür gedankt, dass er den Kopf für dich hinhält? Eher nicht. In einem Interview berichtet der Ex-Soldat Manuel B. von seiner Zeit bei der Bundeswehr und eröffnet neue Perspektiven auf das Leben der Soldaten. Vorsicht – der Beitrag könnte dich dazu bringen, den nächsten Soldaten mit anderen Augen zu sehen. Vielleicht ja sogar dazu, ihm zu danken.

Protokolliert von Liv Lilian

In einem schweren Panzer erreiche ich ein kleines Dorf in der kargen, trostlosen Landschaft von Afghanistan. Mein Blick ist grimmig, der Schweiß glänzt auf meiner Stirn. Für einen kurzen Moment schließe ich die Augen, atme einmal tief ein. Aus. Dann setze ich meinen Helm auf, lege meine Waffen um und steige aus. Die Frauen verstecken rasch ihre spielenden Kinder hinter ihrem Rücken. Doch ich lächle, greife in meine Hosentasche und hole eine Handvoll Bonbons heraus. Sie schillern in allen Farben des Regenbogens. Es scheint, als würde ich ein Stück Himmel in den Händen halten. Ich bin bewaffnet, doch ich bin nicht der Feind. Ich bin hier, um zu helfen. Die Kinder reißen sich von ihren Müttern los, laufen lachend auf mich zu und greifen mit ihren kleinen Händen nach der besseren Welt.

Zwischen zwei Welten

Im Jahr 2009 startete ich meine Grundausbildung bei der Bundeswehr. Als ich dann Ende 2010 zu meinem ersten Einsatz nach Afghanistan aufbrach, erzählte ich meinen Eltern, ich würde auf einen Übungsplatz nach Magdeburg fahren. Ich wollte verhindern, dass sie sich um mich sorgen. So saß ich mit 21 alleine beim Notar und schrieb mein Testament. Außerdem einen Brief an meine Eltern und einen für meinen kleinen Bruder, die sie bekommen sollten, falls ich nicht mehr aus dem Einsatz zurückkommen würde.

Während der ersten Tagen in Afghanistan hatte ich große Angst. Es konnte jeden Moment sein, dass ich erschossen werde. Mit der Zeit lernte ich aber, die Angst auszublenden. Ich machte meinen Job, ich funktionierte. Doch wenn ich nach den dreimonatigen Einsätzen zurück nach Deutschland kam, hatte ich so furchtbare Albträume, dass ich kaum mehr schlief. Wenn doch, wachte ich schreiend oder schweißgebadet auf. Der ständige Wechsel zwischen dem Leben in Afghanistan und dem in Deutschland war kaum auszuhalten. Deshalb erzählte ich irgendwann meinen Eltern die Wahrheit. Beide weinten, aber dann gaben sie mir die Unterstützung, die ich so dringend brauchte und von der Gesellschaft nicht bekam.

Am Anfang glaubte ich, ein Held in Uniform zu sein. Doch dann wurde mir ziemlich schnell klar, dass ich nur ein Trottel war, der im zivilen Leben keinen richtigen Job gefunden hatte und deswegen bei der Bundeswehr diente. Das war zumindest das Gefühl, das mir die Gesellschaft vermittelte. Hast du schon mal einem Soldaten am Bahnhof dafür gedankt, dass er den Schädel für dich hinhält? Eher nicht. In den Bundeswehreinweisungen wird einem sogar davon abgeraten, in Köln am Bahnhof in Uniform auszusteigen.

Von Mensch zu Mensch

Wenn wir auf Patrouille waren, hatte ich immer Bonbons in meiner Tasche. Nachdem wir mehrmals im gleichen Dorf waren, wussten die Kinder schon, bei wem sie ein Bonbon bekommen. Wenn du hier einem Sechsjährigen ein Bonbon schenkst, dann sagt er: „Warum sind das keine zehn Euro, du Idiot? Was soll ich denn mit einem einzigen Bonbon?” Dort hingegen schauen dich die Kinder mit leuchtenden Augen an. Sie nehmen dich ganz anders wahr. Du bist zwar bewaffnet, aber du bist dort, um den Kontakt von Mensch zu Mensch zu pflegen. Nicht von Soldat zu Feind. Das waren Erlebnisse, die mir Kraft gaben.

Es gab aber auch andere Momente. Als meinem Freund ins Gesicht geschossen wurde, war ich plötzlich kein starker Soldat mehr. Ich kann heute noch ganz genau sagen, wie seine Augen aussahen, dieser erschrockene Blick, der zu sagen schien: „Freund, lass mich nicht sterben. Ich will hier nicht sterben. Mach, dass ich es schaffe.“ Die Augen meiner verletzten Kameraden haben sich mehr in mein Gedächtnis eingebrannt als alles andere. Nichts war so schlimm wie dieser Blick, dieser hilflose Blick. Davon habe ich auch heute noch Albträume. Mein Freund überlebte, aber direkt nach diesem Vorfall sagte ich, dass ich nicht mehr will. Nicht mehr kann. Ich kündigte. Fünf Jahre hatte ich der Bundeswehr gedient, war dreimal in Afghanistan gewesen, im Kosovo und am Horn von Afrika. Trotz allem bereue ich nicht, zur Bundeswehr gegangen zu sein. Wenn ich von Anfang an ehrlich zu meinen Eltern gewesen wäre, dann wäre ich vermutlich Berufssoldat geworden, wie es immer mein Ziel war.

Wahre Helden

Ich bin definitiv kein Held. Aber ich habe Helden kennengelernt. Es sind nicht diejenigen, die auf den Feind schießen, das kann jeder. Doch wer hilft dir, wenn du dir selbst nicht mehr helfen kannst? Wenn du verletzt wurdest oder beinah daran zerbrichst, weil du getötet hast? Während eines Feuergefechts fühlte ich nichts. Es war kein Problem, den Abzug zu betätigen, zu wissen, ich habe getroffen. Aber danach saß ich in meinem Zelt und weinte minutenlang. Wie ein Kind. Weil es raus musste. Die Psychologen um Hilfe zu bitten war schwer. Heute kann ich sagen, dass ich geweint habe. Aber auch gelacht. Ich hatte Freude, ich hatte Angst, ich habe schlechte und ich habe schöne Erinnerungen. Ich bin an meinen Erfahrungen gewachsen und habe überlebt – das verdanke ich den wahren Helden, den Ärzten und Psychologen.

Während Manuel von Helden spricht, betrachte ich ihn in der Abenddämmerung. Und mir wird klar, dass noch jemand ganz anderes einen Dank verdient. Er selbst. Dafür, dass er einen Job erledigt, den niemand sonst erledigen will. Dafür, dass er seinen Kopf hinhält, während alle anderen wegschauen. Er wird von der Bevölkerung verurteilt, obwohl er nur helfen will. Hilfspakete verteilen. Bunte Bonbons verschenken. Manuel ist verletzlich, mitfühlend, zweifelnd, bescheiden, voller Liebe und Sorge. Ich beobachte, wie sich ein Glühwürmchen auf seiner Schulter niederlässt. Es scheint, als würde es von dem nachdenklichen Soldaten angezogen werden. Als würde es etwas in ihm sehen, das niemand sonst in unserer Gesellschaft sieht, nicht einmal er selbst. Nämlich das helle Licht, das in seinem Helden-Herzen brennt.

 

Was ein OP-Fachpfleger der Bundeswehr zum Thema Helden sagt, lest ihr hier.

Dittmar Rehmann, 52, ist Soldat und OP-Fachpfleger bei der Bundeswehr. Neunmal war er schon im Einsatz in Afghanistan, insgesamt arbeitet er seit 32 Jahren in seinem Beruf. Normalerweise leitet er verschiedenste Operationen im Bundeswehrkrankenhaus in Ulm – im Einsatz besteht seine Arbeit darin, Krankenhäuser aufzubauen und die Verwundeten der internationalen Schutztruppe ISAF, sowie der afghanischen Armee und Polizei zu versorgen. Täglich operierte er dort auch afghanische Zivilisten, darunter besonders viele Kinder.

Durch seine Arbeit hat er Dinge erlebt und Umstände kennengelernt, die die meisten von uns sich nicht einmal vorstellen können. Menschen getroffen, die Unglaubliches leisten und dafür ihr eigenes Leben riskieren. Oder andere, die nie den Mut verloren haben, in Krankheit oder Krieg um ihr Leben zu kämpfen. Schon das macht ihn zu einem Experten für Helden. Zusätzlich hat er nicht nur viel gesehen, sondern sich auch intensiv mit dem Leben, friedlichem Miteinander und der Religion beziehungsweise dem Glauben auseinandergesetzt. Außerdem durfte er Angela Merkel schon die Hand schütteln.

Deswegen wird uns Dittmar heute drei Fragen zu seinem persönlichen Heldenbild beantworten.

1. Was macht für Sie einen Helden aus?

Ein Held ist für mich jemand, der nicht mit dem Strom schwimmt und unter Einschränkung seiner Bedürfnisse und seiner Unversehrtheit anderen zur Seite steht. Jemand, der moralische Werte auch gegen Widerstand behält und Respekt vor dem Leben in all seinen Facetten hat. Jemand, der seine Taten nicht für kommerzielle Machenschaften ausnutzt und keinen Profit daraus schlagen möchte. Wichtig ist, dass er seine Werte an seine Umgebung weitergibt und sie verbreitet. Er darf sich nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen, sondern muss weiterhin als leuchtendes Beispiel vorangehen. Dazu noch Charaktereigenschaften wie Mut, Toleranz, Respekt und Demut – das alles in einen Mixer auf Stufe drei und dann wird das schon!

Auf ein konkretes Beispiel, wie meinen Einsatz in Afghanistan, bezogen, ist es schon etwas schwieriger: Du hast den Auftrag, etwas zu erkunden und kommst an einem Dorf vorbei, siehst, dass hier Hilfe benötigt wird und hilfst, obwohl du den Auftrag dadurch nicht in gefordertem Maße ausführst. Ich würde in diesem Fall helfen, da die Hilfe für mich höher angesiedelt ist. Das ist dann aber Ungehorsam und wird bestraft. Ein Held hat meistens zwei Seiten – für die einen gut und für die anderen schlecht.

2. Was denken Sie – wie und wann wird der Begriff Held falsch gebraucht?

Ich denke, das ist Ansichtssache. Für viele ist zum Beispiel Mario Götze ein Held, weil er bei der letzten Fußball-WM das Siegtor geschossen hat. Aber sind nicht die die wahren Helden, die unter widrigsten Bedingungen und schlechter Bezahlung diese WM-Stadien gebaut haben, wie zuletzt in Katar? Wo Arbeiter ausgenutzt werden, nur weil sie unbedingt das Geld benötigen, um ihre Familien zu ernähren – sind das nicht die wahren Helden?

Im Krieg da werden Helden geboren, so sagt man; der hat diese oder diese Schlacht entschieden. Aber das sind nicht meine Helden. Die haben getan, was ihnen befohlen wurde, und sind ohne Rücksicht auf das Leben über alles hinweggefegt. Die Frauen zuhause haben ohne ihre Männer, ohne Mittel, die Kinder groß gezogen und Deutschland wieder aufgebaut – wahre Heldentaten!

Der ausgerufene Held wird meist für kommerzielle Machenschaften genutzt. Ich glaube, dass viele dieser Helden nur sehr schwer mit ihrem Status umgehen können. Als Held musst du dem Druck der Öffentlichkeit standhalten, Erwartungen erfüllen und das Bild des Helden darstellen, oftmals gegen die eigene Überzeugung. Die wahren Helden stehen nicht in der Öffentlichkeit. In der heutigen Zeit wird das Heldentum ja rund um die Uhr gefördert: Schau dich um, wie viele virtuelle Kampfspiele jeden Tag gespielt werden. Die leben in einer anderen Welt; hier können sie Mut, Tapferkeit und Unverwundbarkeit verkörpern. Und wenn es nicht so läuft, wie sie es gerne hätten, dann wird einfach das Level geändert oder die Konsole ausgeschaltet – es hat keinerlei Konsequenzen. Das ist nicht echt. Im wahren Leben geht das nicht, da muss ich für mein Tun geradestehen.

Wie viel Mut muss ich aufbringen, mich in eine Gefahr zu begeben, um anderen zu helfen? Die Realität selektiert.

3. Wer ist Ihr persönlicher Held und warum?

Schwierig. Alle, die es uns möglich machen, in einem demokratischen Land zu leben, in dem wir unsere Meinung frei äußern dürfen, und unsere Grundrechte wahren.

Einen gibt es noch: Ich habe viel in der Bibel gelesen, im alten Testament. Dort gibt es Noah – der war zu seiner Zeit der einzige gottesfürchtige Mensch, mit seinen drei Söhnen. Er hat auf Gottes Anweisung hin, gegen alle, die Arche gebaut; ohne etwas zu wissen, einfach nur vertraut. Er ist gegen den Strom geschwommen und hat gegen jeglichen Widerstand angekämpft. Dafür ist er am Ende belohnt worden – er hat überlebt. Hierzu gehört sehr viel Mut und Tauglichkeit.

Und zu guter Letzt dann noch die Erfinder von Elektrizität, Antibiotika und natürlich der Erfinder der Spülmaschine!